Der Moritzplatz lag zu Mauerzeiten in Sichtweite zum Grenzübergang Heinrich Heine Straße und war dadurch lange uninteressant. Es gab viele große Baulücken - Robben & Wientjes parkte hier seine Mietwagen-Flotte - die erst 20 Jahre nach Maueröffnung zuerst vom Aufbauhaus und nun vom Großinvestor Pandion hochpreisig zugebaut werden. Jahrzehnte war das Grundstück eine Brache. Lange vor Maueröffnung befand sich eine Autowerkstatt mit Second Hand Autos darauf, nachdem sich die Kahlschlag-Sanierungspolitik „autogerechte Stadt“ einer Autobahn durch Kreuzberg entlang der Oranienstraße in den 1960er Jahren mit einer Auffahrt am Moritzplatz zerschlagen hatten. Die alternative Architekten-Szene propagierte schon zu Beginn der 80er einen detailliert futuristischen Umbau mit ökologisch moderner Architektur, von dem kein einziges Projekt verwirklicht wurde. Man begnügte sich mit einem Flohmarkt am Wochenende. Der Wende-Bürgermeister Walter Momper pflanzte in den 90er Jahren im Öko-Eifer werbewirksam zwei Linden, die nach 30 Jahren zu den großen Bäumen auf dem Gelände des Prinzessinnen Garten gehören. Von der Beschaffenheit bestand das Gelände nur aus gestampftem Bauschutt eines großen Wertheim Kaufhauses, das hier bis Anfang 1945 prunkte und nach einem Bombardement der Alliierten in Schutt und Asche gegangen war. Im Jahre 1928 eröffnete U-Bahnhof Moritzplatz pulsierte das Leben ähnlich wie am Potsdamer Platz. Sogar die U-Bahnlinie wurde dafür mit einem Knick umgeleitet, weshalb sich hier im Untergrund nie in Betrieb genommene Geister-Schächte befinden. Die U-Bahnstation Oranienplatz war schon ausgegraben, mit dem Aushub wurde der Kanal am Oranienplatz zugeschüttet, als der Kaufhausinhaber Georg Wertheim umgerechnet 20 Millionen auf den Tisch legte und eine neue Grabung erreichte.

Im Jahr 2005 gehörte das 6000 qm Areal, direkt am U-Bahnhof Moritzplatz, zum Liegenschaftsfonds des Bundes, der grundsätzlich an den meistbietenden verkaufte, was stets ein Investor war und nie die mittellose kreativ alternative Szene. Nachdem die Bezirksverordneten eine erfolgreiche Rückübertragung erreicht hatten, gehörte das Gelände wieder der Stadt, die es zur Daseinsvorsorge (also Park, Kita, Sportplatz oder Schule) reservierte, und mit minimaler, nur niedriger Bebauungsmöglichkeit unrentabel machte für Hotels oder Büros.

Als Nomadisch Grün das Gelände 2009 als Zwischennutzung für fünf Jahre (danach für fünf weitere Jahre) zur Verfügung gestellt wurde, war der Bauplatz zwei Millionen wert; als Nomadisch Grün, die ihren Garten in ästhetisch anspruchslosen Säcken und Kisten zogen, Schiffscontainer aufgestellt hatten und einen bei Touristen und Juppis beliebten Biergarten unter jungen Wildwuchs-Robinien unterhielten, nach zehn Jahren beschlossen weiterzuziehen, um in Neukölln einen aufgegebenen ruhigen Friedhof als Alternative zu nehmen, wurde der Grundstückspreis auf 20 Millionen taxiert. Für die umliegenden Geschäfte war der Garten kein Zugewinn, weil er im Winter fünf Monate geschlossen blieb und so kaum Laufkundschaft versprach.

Im Dezember 2017 bekam ich für 15 Wochen einen 1 Euro Job im Prinzessinnen-Garten bis Ende März, der leider nicht verlängert wurde. Ich hatte mein ganzes Leben lang noch nie im Winter im Freien gearbeitet und zweifelte anfangs sehr, weil im Dezember rein gar nichts wächst. Ich war es gewohnt, mir bei der Arbeit ein Heißgetränk zu machen und mich in der Nähe der Heizung aufzuhalten. Hier gab es keine Räume, keinen Wasserkocher und irgendwie auch nicht viel zu tun, außer Laub zu fegen oder etwas Schnee zu schippen, was in einem geschlossenen Garten auch nicht sehr sinnvoll ist.… Eine Schnapsidee, was hatte ich mir dabei gedacht?

Meine neuen Arbeitskollegen standen oft rauchend beieinander. Mir wurde vom rumstehen kalt. Nur zur Berlinale gestaltete das ganze Team im Atrium der Cinemathek am Potsdamer Platz eine Traumwelt, mit im Februar blühenden Bäumen und nach Salbei, Rosmarin, Basilikum  oder Zitronenmelisse duftenden Kräuterecken zwischen Sitzgelegenheiten. Drei Monate Zeit, um was zu tun? Am Rande glich der Garten einer Abstell-Halde. Ich suchte mir im Januar die sonnigste Ecke und entfernte die Gerümpel-Holzhaufen. Um der Idee des transportablen Gartens von Nomadisch Grün etwas entgegen zu setzen, sammelte ich Steine und begann eine kleine Mauer zu bauen, hinter die ich viele Schubkarren voll Laub schüttete. In einer Art von ästhetischem Widerstand verkleidete ich mit hunderten Brettern, Latten, Stangen und Klötzchen den Drahtzaun zur Straße, um Lärm und Abgase fern zu halten. Meine Arbeitskollegen verfolgten mein eifriges Tun aus ihrer entfernten Raucherecke und amüsierten sich kopfschüttelnd über mich.

Meine Mauer wurde einen Meter hoch und jede Woche einen Meter länger. Auf dem Laub verteilte ich alte ausgelaugte Erde der Kartoffel- oder Tomatensäcke, die entlang des Zauns mit vertrockneten Ästen und Gehölzen ausgekippt wurde, um die Giftstoffe der täglich 10000 Autos aufzuhalten, bis in die Kräuter & Gemüse Biobeete vorzudringen. Freitag Mittag war Plenum. Alle Beteiligten trafen sich im „Tante Horst“ in der Oranienstraße. Dachte ich. Wenn es keine wichtigeren Aufgaben gab, arbeitete ich alleine, gelegentlich erhielt ich sogar Zuspruch. Blieb man in Bewegung, wurde einem auch nicht kalt. Ein Steinmäuerchen für ein Gartenbeet war traditionell nichts besonderes, die immer weiter und höher über den Drahtzaun hinausragenden Holzlatten, Bretter, Stangen und Klötze sahen vom U-Bahnausgang außen unregelmäßig aus, was dem Vorarbeiter missfiel. Was denken die Leute, die in Trauben alle fünf Minuten aus dem Schacht kommen und da vorbei müssen... Ende Januar tauchte ein freundlich grinsender Mann im Garten auf, den ich noch nie gesehen hatte und stellte sich als Marko vor. Er war begeistert und ermutigte mich weiterzumachen. Es war einer der zwei Gründer des Gartens und ich arbeitete in seinem Teil des Grundstücks.

Die zwei Gründer des Gartens hatten sich bereits vor Jahren zerstritten und gerieten immer wieder aufs neue in Streit um die Ausrichtung des Gartens. Nomadisch Grün legte den Schwerpunkt auf Biokräuter und Gemüse, Schulklassen-Führungen und zwölf Stunden Gastronomie. Common Grounds baute mit Architektur-Studenten eine dreistöckige Holzkonstruktion als Treffpunkt und veranstaltete mit der Nachbarschafts-Akademie Infoabende. Im Sommer projizierte man wöchentlich Open-Air Doku-Filme auf die große Leinwand. Ohne es zu wissen hatte ich mich auf eine Seite geschlagen. Nun verstand ich auch, warum alle aus der Ferne mein Tun beäugten und mich gewähren ließen. Weil sie zum anderen Team gehörten. Ich war kurz davor zwischen die Fronten zu geraten, als mein Arbeitsvertrag nach 15 Wochen endete.

Alles liegen und stehen zu lassen kam nicht in Frage, also machte ich weiter. In den frühen Morgenstunden, bevor um zehn Uhr geöffnet wurde, goss ich die Pflanzen und hämmerte ein Stündchen. Nach und nach räumte ich den Latten und Bretter Zaum wieder ab und arbeitete an einer langfristigen Variante mit genageltem Holz, was mir ermöglichte, auf über drei Meter Höhe hinaus zu bauen. Es wurde eine 10.000 Teile Holz-Assemblage. Viele hielten es für ein Insektenhotel. Unentwegt wurden die Handys gezückt und Fotos gemacht. Indem ich mich aus allem heraushielt - meine Ecke gefiel allen - erlangte ich eine gewisse Narrenfreiheit. So kam es, dass ich durch einen 15 Wochen 1 Euro Job nun einen Garten in Kreuzberg neben dem U-Bahn Ausgang Moritzplatz habe. Zweimal im Monat war großer Flohmarkt. Man lauerte mit Sack und Pack vor der Tür auf Einlass und besetzte dann mit Vorliebe die von mir gestaltete Ecke, weil sich Steinmäuerchen und drei Parkbänke als besonders gemütlich heraus stellten. Nomadisch Grün kassierte die Standgebühren, ich entfernte im Chaos danach den Müll…

2019 sah es nicht gut aus, die Verträge liefen aus und der Senat vertagte das ganze Jahr die Entscheidung, ob und wie es weitergehen könnte. Die Bezirksverordneten entschieden am 14.12.2019 in letzter Sekunde über die Zukunft des Gartens und gewährten einen sechs Jahres Vertrag, auch weil wir einem jährlich zu erneuernden Zwischennutzungsvertrag nicht zustimmten. Unsere Forderung von 99 Jahren Pacht wurde abgelehnt. Im Gegensatz zum vorherigen Team, was eine Firma mit festangestellten Gärtnern war, sind alle sich im Garten engagierenden Enthusiasten nur in ihrer Freizeit tätig. Allein die monatlichen 1000.- für die Straßenreinigung können ehrenamtlich nicht erwirtschaftet werden; trotzdem stritt der Bezirk über eine Anschubfinanzierung, ohne die wir unmöglich aus der Brache einen Garten zaubern können.

Anfang März flog ich nach Indonesien und wollte zwei Monate bleiben. Aufgrund der Pandemie musste ich meine Reise Ende März abbrechen und im allerletzten Flugzeug zurück fliegen. Im Garten hatte man begonnen die zementierten Wege aufzubrechen, um dem Boden und den wild gewachsenen Bäumen mehr Raum zu geben. Den Zementschutt in Form von tausenden Bruchstücken bot man mir an, in der Annahme, ich würde daraus weitere Gartenbeet-Mäuerchen erstellen. Da die vorherigen Betreiber, wie die Israelis im Sinai nach dem Krieg die Infrastruktur gnadenlos zerstört hatten, gab es keinen Wasseranschluss mehr. Es regnete auch vier Wochen rein gar nicht. In Anbetracht des Wassermangels machte die Arbeit mit den Zementplatten für mich Sinn. Jetzt oder nie. Ich legte in der Sichtachse zum Eingang einen Steinkreis aus und alle paar Tage zwei weitere Reihen obendrauf. Nachdem in den vergangenen Jahren das digitale stetig zugenommen hatte, war es an der Zeit etwas haptisches in den Raum zu stellen. Ich hatte niemanden eingeweiht oder um seine Meinung gebeten. Der Garten war täglich aufs Neue menschenleer und aus Versicherungsgründen auch für die Öffentlichkeit geschlossen. In einer Art Überraschungsmoment meine Chance nutzend würde der Kegel plötzlich einfach da stehen. In den Zoom-Meetings der Gartengruppe, an denen ich nicht teil nahm, fragten die ersten kopfschüttelnd nach dem Sinn oder Unsinn und hofften auf eine Sitzrotunde. Es ging aber um die Transformation des Materials am gleichen Ort. Nach 100 Schubkarren mit Betonbrocken würde man den Turm aus reiner Faulheit stehen lassen. Ende April, nach einem Monat und 250 Schubkarren versperrte der Kegel, fünfzig Steinreihen hoch und viele Tonnen schwer, archaisch bescheiden die direkte Sicht in den Garten. Sollte sich darunter der sagenumwobene U-Bahnschacht von 1926 befinden, wird der Turm über kurz oder lang nach unten durchbrechen. Schon bei dem bis zu vier Meter hohen Holzzaun machten sich manche Gedanken über Statik und Gewicht und befürchteten, er könnte die werktätigen Massen erschlagen.

Fazit: Kreativität zeichnet sich gerade dadurch aus, über herkömmliche Kategorie-Grenzen hinweg zu assoziieren. Im Dschungel der unzähligen täglichen Eindrücke ist der Turm am Moritzplatz eine bleibende Erinnerung an die verlorene Zeit des Lockdowns. Und ein Mahnmal wider die Verflachung. Auch wenn man mich als hoffnungslos gestrigen Solisten belächelt, das Überflüssige ist eine sehr nützliche Sache.

It´s always up to you.

 

Berlin im April 2020, © ebo hill
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