Der Tag begann für mich ganz normal wie immer. Morgens um 8 Uhr aufstehen, duschen, frühstücken, Fahrt zur Arbeit. Das Geschäft, eine Videothek, liegt in der Sonnenallee. 10 Uhr öffnen und auf die ersten Kunden warten. Der Tag neigte sich dem Abend entgegen und verlief wie immer.

 Doch gegen Abend überschlugen sich die Ereignisse. Es war so gegen 19.30 Uhr, als ein Freund ins Geschäft kam und mir mitteilte, die Mauer sei offen. Ich dachte erst, dass er ein Scherz mit mir machen würde. Ich hatte zwar das Radio an, aber nicht zugehört, was dort an Nachrichten durchgegeben wurde. Als ich dann das Radio lauter stellte und es laufend Sondernachrichten gab, fing ich doch langsam an, daran zu glauben, obwohl die Skepsis überwog und man auch ein wenig Angst verspürte, ob das alles ohne Gewalt geschehen würde. Mein Freund war in der Zwischenzeit wieder gegangen und wollte später nochmals wiederkommen.

So gegen 21:30 Uhr war er dann wieder im Laden und meinte zu mir, ob wir nicht zum Grenzübergang Sonnenallee fahren wollen, um zu erfahren, ob die Grenzen wirklich geöffnet sind. Um 10 Uhr schloss ich den Laden und fuhr mit meinem Freund mit dem Bus zum Grenzübergang, Sonnenallee. Der Bus hatte 150 Meter vor der Grenze Endstation. Als wir den Bus verlassen hatten, kamen uns schon jubelnde Menschen mit Reisetaschen und Koffern entgegen. Auch die ersten Trabis fuhren uns hupend entgegen. Wir gingen also weiter Richtung Grenzübergang, wo es immer voller und lauter wurde. Aufgrund der vielen Menschen hatten wir uns entschlossen, erstmal einen Platz mit etwas Abstand vom Grenzübergang zu suchen, um zu warten, was weiter passieren würde. Wir besorgten uns etwas zu trinken und sahen

dann zwei junge Männer an einem Stehtisch stehen, wo noch Platz war. Wir fragten, ob wir uns dazu stellen dürften, was sie gestatteten. Wir fragten sie dann, ob sie es genauso unfassbar finden, dass die Grenze offen ist und sie gaben uns zur Antwort, dass sie von drüben wären. Das verschlug uns erst mal die Sprache. Es begann sofort ein reger Austausch, bis dann ein Mercedes Kombi direkt hinter uns hielt und ein etwas korpulenter Mann in Bayrischer Tracht ausstieg, auf uns zu kam und wissen wollte, ob es wirklich wahr sei, dass die Grenze offen sei. Wir sagten ihm dann, dass es wahr sei und die beiden jungen Männer von drüben seien. Sein Lächeln wurde noch breiter und er fragte beide jungen Männer nach ihrer Schuhgröße.

Wir schauten etwas verdutzt, als er zurück zu seinem Auto ging, die hintere Klappe öffnete, mit einem Karton wiederkam und einen der Beiden den Karton übergab. Er  entschuldigte sich bei dem anderen und meinte, dass er nur noch diese eine Größe habe. Als der Andere den Karton öffnete, waren dort ein Paar Cowboy Stiefel drin, die er anprobierte. Sie passten ihn auch und er konnte sie behalten. Der Mann erklärte uns dann, dass er Schuh-Vertreter sei und schon auf dem Weg nach München war, als er im Radio von der Grenzöffnung gehört habe und sich jetzt selber davon überzeugen wollte. Der Mann verabschiedete sich dann von uns, um weiter nach München zu fahren. Wir unterhielten uns noch angeregt und es war schon kurz nach Mitternacht, als die beide jungen Männer meinten, dass sie jetzt wieder nach drüben gehen wollen und ich und mein Kumpel beschlossen, sie bis zum Übergang zu begleiten. Vorher gab ich ihnen noch meine Adresse vom Laden und meinte zu ihnen, sie können mich jederzeit besuchen kommen. Als wir dem Übergang näherkamen, wurde das Gedränge immer größer, die einen wollten nach drüben in den Ostteil, die anderen in den Westteil.

Nachdem ich von einem Jubelnden umarmt wurde und er mir fast die Knochen gebrochen hätte, so sehr freute er sich, entschlossen ich und mein Freund, es lieber bleiben zu lassen. Nach dem Entschluss verabschiedeten wir uns von den beiden. Wir dachten uns dann, als wir zum Bus gingen, dass wir die beiden nie wiedersehen würden.

Ich schlief an diesem Abend sehr unruhig, es gingen einem doch sehr viele Gedanken durch den Kopf. Als ich dann doch endlich einschlief und am anderen Morgen aufwachte, es war so 7 Uhr gewesen, war der erste Gang zum Fernseher, was ich sonst nie tat.

Es gab auf jedem Sender Berichte über die Öffnung der Grenze. Nach dem Frühstück machte ich mich fertig, um zur Arbeit in die Videothek zu fahren. Ich wohnte damals in Tempelhof und um zur Arbeit zu kommen, benutzte ich die U-Bahn und dann den Bus.

Als ich dann ankam, wo ich aussteigen musste und Richtung Geschäft lief, sah ich von weiten ungefähr 20 bis 30 Menschen vor dem Geschäft stehen. Erst dachte ich, dass vielleicht etwas passiert war, da man schon ein paarmal versucht hatte ins Geschäft einzubrechen. Als ich dann am Geschäft ankam, war es so gegen 9:30 Uhr. Ich stellte fest, dass nichts passiert war und wollte wie gewöhnlich um 10.00 Uhr das Geschäft öffnen.

Inzwischen wurde es draußen immer voller. Die Leute vor dem Laden waren alle aus Ost-Berlin. Ich mahlte mir im Kopf aus, was hier gleich passieren wird, dachte so an den Sommer- oder Winterschluss-Verkauf, wenn die Leute die Kaufhäuser gestürmt hatten und mir wurde ganz anders zumute.

Mit zitternden Knien ging ich dann kurz vor 10.00 Uhr zur Tür, um das Geschäft zu öffnen. Als ich dann aufschloss, rechnete ich mit dem Schlimmsten, aber nichts dergleichen geschah. In Reih und Glied kamen sie ins Geschäft, gingen wie an einer Perlenkette gezogen an den Regalen entlang und schauten sich neugierig die Videohüllen an. Dann kam einer zu mir und fragte, ob man die Hüllen in die Hand nehmen dürfe. Ich sagte natürlich, dass er sie in die Hand nehmen kann, aber dass er sie auch bitte wieder dorthin zurückstellen möge.

Bei vielen Kunden kannte ich es so, dass die Hüllen verkehrt herum oder auf dem Kopf wieder ins Regal gestellt wurden.

Aber damals war alles ganz anders gewesen, die Hüllen wurden wieder akkurat so wie sie vorher gestanden hatten zurückgestellt. Dann viel mir auf, dass kaum gesprochen wurde und wenn, dann war es ein Geflüster gewesen. Das Einzige, wo es etwas enger wurde und es sich leicht staute, war bei der Erotik-Abteilung.

Ich stand so hinterm Tresen und beobachtete alles mit Freude. Dann kam ein junger Mann zu mir und stellte so ungefähr 7 Filme auf den Tresen. Ich nahm also die Hüllen und suchte die Kassetten raus. Dann fragte ich ihn nach seinem Namen und er meinte, dass er ein neuer Kunde wäre. Daraufhin fragte ich nach dem Ausweis und er legte mir einen DDR-Ausweis vor. Ich musste erst mal schlucken, um ihm dann leider mitzuteilen, dass es nicht ginge, da es ja kein westdeutscher Ausweis ist und ich ihm daher keine Filme verleihen könne, was mir sehr leidtat. Er verstand es auch, und wollte die Hüllen wieder zurückstellen, was ich dann aber tat.

Damals war es ja so gewesen, dass man die Filme nur ausgeliehen bekam, wenn der Wohnsitz in West-Berlin war. Die DDR war ja damals ein ausländischer Staat und Ost Berlin die Hauptstadt der DDR, deswegen ging es nicht mit dem Verleih.
 
Der Tag neigte sich dem Ende entgegen und ich musste noch sehr viele Fragen an diesem besonderen Tag beantworten, was doch schon sehr anstrengend war. Es war schon dunkel geworden und es waren nicht mehr ganz so viele Leute im Laden, als die Tür aufging und die zwei jungen Leute vom Abend davor eintraten und noch einen Freund mitbrachten.

Ich war echt freudig überrascht, damit hatte ich nicht gerechnet!

An diesem Abend entstand eine Freundschaft, die bis heute bestand hat!

Ich kann nicht verstehen, dass es immer noch Menschen aus Ost und West gibt, die sich die Mauer zurückwünschen. Auch wenn ich durch den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung für mich keine Vor- sondern eher Nachteile erlangt habe, wie z.B. den Wegfall der Berlin-Zulage, steigende Zuwanderung, Mieten, Kriminalität, Arbeitslosigkeit usw., bin ich froh, dass es so ist wie es ist, sonst hätte ich nicht so viele neue Freunde kennen lernen dürfen, was viel mehr wert ist als alles andere.