Meine Geschichte beginnt im Dezember 1971. Ich war damals fast zehn Jahre alt und gerade mit der Familie nach Berlin-Friedrichshain umgezogen. Aus der Niederlausitzer Provinz kommend in die Hauptstadt der DDR geworfen! Die Karl-Marx-Allee quasi vor der Tür, das Schaufenster des Osten - was für ein Quantensprung. Die Karl-Marx-Allee mit ihren Spezialgeschäften, Restaurants, zwei großen modernen Kinos, seiner Architektur und der breiten Flaniermeile mit Rasen und großen Bäumen: großartig! Neugierig sah ich mir alles an und war beeindruckt.

Der Briefmarkenladen war für mich der Mittelpunkt der Geschäfte dort. Ich hatte ein Jahr vorher begonnen mit dem Briefmarkensammeln und hier hatte ich eine riesige Auswahl zur Verfügung. Der Inhaber, ein älterer, ruhiger freundlicher Mann nahm mich ernst und erschloss mir die Leidenschaft des Sammelns. Er behandelte mich wie einen Erwachsenen und wir redeten auf Augenhöhe. Die Wundertüte mit 100 Briefmarken für wenig Geld war für mich das Wichtigste in den ersten Monaten und wurde der Grundstock für das Sammeln. Später spezialisierte ich mich auf bestimmte Länder und Themen/ Motive. Die Besuche wurden regelmässig und es entstand eine Freundschaft.

Die Jahre vergingen, die Leidenschaft für das Briefmarkensammeln wurde weniger und dementsprechend auch die Besuche im Laden. Die Karl-Marx-Buchhandlung wurde nun mein neuer Schwerpunkt auf der Allee. Desweiteren sind mir und meiner Familie das Restaurant „Haus Berlin” und die Kinos “Kosmos “ und “International” besonders an ́s Herz gewachsen. Dort verbrachten wir viel Zeit und schöne Stunden. In den beiden Kinos feierten wir unter anderem (meine Geschwister und ich) unsere Jugendweihe. In den Restaurants „Berlin“ und “Budapest” wurde zu vielen Anlässen gut gegessen. Ein besonderer Film wird mir immer in Erinnerung bleiben: Die Aufführung von “The Band - The Last Waltz”. Im Oktober 1986 kam er ins Kino “Kosmos”, drei mal habe ich ihn in einem Monat gesehen! Mitte der 80er Jahre waren der Biergarten und die Diskothek im “Café Warschau” ein weiterer Schwerpunkt.

Viele Geschäfte sind gekommen und gegangen, aber der Briefmarkenladen ist geblieben. Im Alter von 50 Jahren waren ich wieder mal unterwegs und stand vor meinem alten Laden. Was für ein Schock, als ich diesen Aushang las:

       „Nach 45 Jahren Betriebstätigkeit stelle ich hiermit die Geschäftstätigkeit ein.“

Zu meiner Traurigkeit gesellte sich nun noch schlechtes Gewissen, weil ich mich so lange nicht hatte blicken lassen. Nach drei Jahren Leerstand eröffnete 2015 eine italienische Weinhandlung mit Küche. Was mich gefreut hat: Der Schriftzug an der Fassade aus den 60er Jahren meines Briefmarkenladens ist im Original erhalten geblieben.

Nicht alles scheint zu verschwinden. Heute gehe ich gerne an meinem Briefmarkenladen vorbei und schwelge in schöner Erinnerung.

Kurzbiografie Lutz

Baujahr 1962, die ersten fast 10 Jahre in einer kleinen Gemeinde in der Niederlausitz verbracht,

Dezember 1971 Umzug nach Berlin - Friedrichshain, seit dem (50 !!! Jahre) hier ansässig, 1983 - 1986 Studium Kulturwissenschaften in Meißen, danach viele Jahre im Kulturbereich tätig

Interessen: Natur, Kultur (speziell Musik), Sport, gute, gesellige Gespräche bei Bier