Wir schreiben das Jahr 1996. Es ist Mai, prächtiges Wetter und der Stadtteil Friedrichshain lebt träge vor sich hin.

Am Nachmittag erreicht mich im Büro der WBF (Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain) der aufgeregte Anruf des Bauleiters einer Firma, die ich öfter mit Bauarbeiten in besetzten, aber formal unter der Verwaltung der WBF stehenden Häusern beauftrage. Herr S., den ich bereits aus diversen Bauvorhaben kenne, hat ein Problem:
„Herr Urban, wir arbeiten doch bisher immer gut zusammen, nicht wahr? Aber nun habe ich doch Bedenken um die Sicherheit meiner Leute, betreffend das Haus Jessnerstraße 41 am Traveplatz. Irgendeine Verwaltungsperson hat unsere Firma mit äußerster Dringlichkeit beauftragt, eine Losung an einem Balkon des 1. Obergeschosses zu übermalen, weil diese die Würde des Innensenators verletzt. Das muss gleich morgen früh geschehen! Ich habe das gerade direkt von meinem Geschäftsführer. Es geht dabei auch um das Fortbestehen der für unsere Firma existenziell wichtigen Zeitverträge. Leider wurde bereits, nicht von uns, das große Besteck, das heißt schwere Technik und Polizeischutz, bestellt.“'
Wer die beauftragende Person sei, kann oder will er mir nicht sagen.
Werner R., mein Abteilungsleiter, weiß nichts von der Sache und meint nur wie üblich, ich solle das Problem irgendwie lösen.
Also rufe ich noch mal Herrn S. zurück:
„Keine Panik! Sie haben doch bereits da gearbeitet. Von diesen Menschen ist niemand gewalttätig. Ich schaue dort heute Abend mal vorbei und erkläre unseren lieben Hausbesetzern, dass man ihre Leute zu dieser Arbeit nötigt. Und wenn die BewohnerInnen dann noch hören, dass ihre Bauarbeiter die nächsten Wochen Zeit finden, die neuen Kneipentoiletten zu fliesen, sind sie bestimmt sehr entgegenkommend. Ach ja, und im gerade entstehenden Theaterraum über zwei Geschossebenen des Hinterhauses müssen schnell noch ein paar Monster-Stahlträger eingebaut werden. Die Aufträge schicke ich Ihnen umgehend.“

Abends radle ich da also mal vorbei. Es wird, wie so oft, ein sehr langer Abend. Als Absprache steht am Ende: Keine Gewalt, statt dessen ein fröhliches Musikprogramm zur Erbauung der missbrauchten Arbeiterklasse. Dazu findet sich noch ein passendes Schild aus DDR-Zeiten.
Da die Inschrift also am nächsten Tag verschwinden wird, werden fleißig Stofftransparente als Ersatz gemalt. Als dann jemand beginnt, alle im Haus verfügbaren öligen Substanzen zusammenzusuchen, tun mir die armen Werktätigen der betroffenen Firma vorab doch ein wenig leid.

Eine kurze Abschweifung in die Historie:
Der CDU-Politiker und Generalleutnant a.D. Jörg Schönbohm war als Chef des Bundeswehrkommandos Ost ab 1990 für die Auflösung der Nationalen Volksarmee der DDR verantwortlich. Vermutlich war dies seine einzig erwähnenswerte politisch gute Tat. Am 25. Januar 1996 wurde er Innensenator der Großen Koalition unter dem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU). Sofort ließ er in großem Maßstab Flüchtlinge abschieben. Nachdem 1991 bis 1992 fünfundachtzig besetzte Häuser durch verschiedene vertragliche Lösungen legalisiert wurden, kündigte er nun an, alle weiteren illegalen Häuser räumen zu lassen. Das Wort Dialog war ihm aus seiner Militärkarriere völlig unbekannt. Allein im kurzen Zeitraum von Amtsantritt bis Anfang Mai 1996 verantwortete er die gewaltsame Räumung von vier Häusern. Den Hass der Hausbesetzerszene hatte er sich also „redlich“ verdient.

Unterhalb des Balkons des Ärgernisses befindet sich die mittlerweile legendäre Besetzerkneipe „Supamolly“. Der Anstoß zur Namensgebung kam ausgerechnet von der Boulevardpresse. Nach der Räumung der Mainzer Straße am 14. November 1990 durch 4000 schwer bewaffnete Polizisten wurden in einem Dachgeschoss einige große leere Weinballons sichergestellt, wie sie von Studenten in Ost und West seit Jahrzehnten zur nicht ganz legalen Bereitung von Reis- oder Honigwein gern benutzt wurden. Die Journaille schrieb von der Sicherstellung von riesigen Glasbehältnissen, die zur Herstellung von Super-Molotowcocktails geeignet seien.
Ein solcher Ballon hing dann über ein Jahr links oben neben der Kneipentür, bis ihn eines Abends ein betrunkener Paul mit einem Fußball abschoss.

Eines schönen Tages kreiste für ca. zwanzig Minuten ein Polizeihubschrauber direkt über dem Dach des Hauses.
Ich war vorher öfter mal da oben, musste mich ja schließlich um die Standsicherheit der Schornsteinköpfe kümmern. Die Dachbegrünung zauberte jedes Mal ein fröhliches Grinsen in mein Angesicht. Ein wirklich angenehmer Ort.
Dem Hubschrauber folgte leider ein polizeilicher Großeinsatz, bei dem die gesamte, in gutbürgerlichen Blumentöpfen wachsende Dachbepflanzung abgeräumt und sichergestellt wurde. Ein Strafverfahren musste später eingestellt werden, da es unmöglich war, die Pflanzen den ca. fünfzig EinzelbewohnerInnen zuzuordnen. Leider war nach diesem Einsatz auch meine Einladung zum Erntedankfest obsolet.
Botanische Kenntnisse kann man bei einem Bauingenieur nicht unbedingt voraussetzen, wohl aber, dass er bis hundert zählen kann. Ich habe nämlich ziemlich genau einhundert dieser Topfpflanzen gezählt. Dieser Meinung waren auch die Hausbewohner. Seltsam nur, dass in der Pressemitteilung der Polizei von fünfzig sichergestellten und umgehend vernichteten Cannabispflanzen die Rede war.
Merke: Auch Polizisten haben Bedürfnisse.

Aber zurück zur eigentlichen Geschichte:
Den nächsten Tag schaue ich da gegen 10 Uhr mal vorbei und nehme meine Kamera mit. Gute Idee. Irgendein Vollidiot hat eine riesige Hebebühne anliefern lassen, deren Hubarm so lang ist, dass sie nur auf der anderen Straßenseite am Traveplatz bei Vollsperrung der Jessnerstraße aufgestellt werden kann. Anders käme man an den niedrigen Balkon gar nicht heran, was in diesem Falle herab bedeutet.

Die Aktion läuft, wie es der Würde eines aufrechten Innensenators gebührt, selbstverständlich unter angemessenem Polizeischutz. Um diese Zeit ist jedoch ein Großteil des Polizeiaufgebotes schon wieder enttäuscht abgezogen.

Die Bauarbeiter bemerken ein wenig vergnatzt, dass die Inschrift des Anstoßes sich nicht so einfach übermalen lässt, da die bösen Hausbesetzer die ganze Fläche listig frisch eingeölt haben.Anika und Ossi wechseln sich auf besagtem Balkon bei der musikalischen Begleitung ab und erzeugen fröhliche Trompetenklänge.
An anderen Balkonen und Fenstern des Vorderhauses werden jetzt verschiedene Stofftranspis aufgehängt, die alle dem beliebten Innensenator huldigen.
Die Bauerbeiter holen sich aus ihrer Firma eine andere Farbe, was aber auch nichts bringt. Dieses scheiß Öl!
Zum Trost wird ihnen über den Balkon ein spätes Frühstück gereicht.
Anika und Ossi musizieren mit Zwischenpausen unverdrossen weiter. Für eine Jam-Session mit professionellen Jazzmusikern würde es nicht ganz reichen, aber hier passt es prima.
Die Jessnerstraße ist immer noch gesperrt und die Laune der Polizisten wird zunehmend mieser, weil sie nun offenbar selbst endlich bemerken, dass sie da völlig sinnlos herumstehen. Zudem wird ihnen kein Frühstück serviert.
Jetzt fährt einer der Arbeiter zum Fachberater eines renommierten Herstellers von Fassadenfarben und kehrt erst nach mehreren Stunden mit einem neuen großen Farbkübel zurück.
Nun endlich gelingt es den tapferen Bauarbeitern, die Losung in mehreren einander folgenden Anstrichen deckend zu übermalen. Sie haben ein unverfängliches Blau gewählt, welches einen schönen Untergrund für spätere neue Statements bilden wird. Für die Baufirma ist jetzt Feierabend.
Die Polizisten allerdings lungern hier befohlen immer noch herum, denn die völlig überdimensionierte Hebebühne wieder abzutransportieren, dauert seine Zeit. Von der WBF hat sich außer mir die ganze Zeit niemand blicken lassen. Die Furcht vor unbekannt Buntem treibt manchmal seltsame Blüten.
Dann, nach ca. sieben Stunden, kehrt wieder Ruhe ein am Traveplatz.

Dabei hätten es zwei Personen mit einem kleinen Leiterchen und normaler Farbe morgens gegen sieben auch getan. Da hat die Kneipe bereits geschlossen, aber das Haus schläft noch. Maximal fünfzehn Minuten, und das Ganze hätte sich quasi im Vorbeigehen erledigt. Dies hätte allerdings ein Minimum an gesundem Menschenverstand erfordert.

Am Abend wird irgendein kleiner oder großer Entscheidungsträger im Freundes- oder Familienkreis stolz erzählen, wie er die Berliner Senatsräson heroisch durchgesetzt hat.

Wir schreiben das Jahr 1996. Es ist Mai.
Herr Schönbohm wird noch weitere zwei Jahre in Berlin sein Unwesen treiben, um dies dann deutschtümelnd als Brandenburger Innenminister bis 2009 fortzusetzen.
Gemeinsam mit einem Herrn Friedrich Merz wird er eine „deutsche Leitkultur, in die die Grundlagen des christlichen Abendlandes einfließen“ fordern.
Im Jahr 1998 wird ihm das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen werden.

Die HausbesetzerInnen werden eine Genossenschaft gründen und das Haus in Selbstverwaltung erwerben.
Und immer wieder werden an der Fassade Losungen sichtbar sein, die eine gerechtere Welt fordern.
Heute, und in Zukunft.