Dieser Lockdown wegen Covid nervt schon heftig. Nun hat sich auch noch meine Lebensabschnittsgefährtin in Teilzeit furchtsam eine strenge Eigenquarantäne verordnet. Solch eine Teilzeitbeziehung sollte man besser akzeptieren, wenn man selbst nicht mehr jung und superfit, und die Frau klug, verträumt, wunderschön, sehr lebenslustig und dazu ein paar Jahrzehnte jünger ist. Aber wenn aus Teilzeit Keinzeit wird…. Zuerst kaum merkbare Veränderungen, ohne Selbstreflexion. Irgendwann sitzt man dann einsam auf einer Parkbank und merkt erst nach einer Weile, dass man die ganze Zeit irgendwas vor sich hin brabbelt.

Im Stadtteilbüro Friedrichshain arbeite ich wegen der Abstandsauflagen und Maskenpflicht meist nur noch allein abends und nachts. Auf dem Hinweg hasten an mir Menschenmassen vorbei, jedweder ein paar Pakete von des Deutschen wichtigstem Kulturgut unter dem Arm, bevor die allerletzte Rolle Klopapier ausverkauft ist. Mehrfach bekomme ich Besuch von maskierten Uniformierten, denen ich jedes mal aufs Neue den Grund meines späten Hierseins erklären muss. Sie scheinen sich untereinander einen kommunikativen Lockdown verordnet zu haben.

Auf dem Heimweg eines Nachts in der Liebigstraße plötzlich markerschütternde Schreie. Ich haste hin. Als erstes faucht mich ein beim Dinner gestörter Stadtfuchs an, bevor er sich widerwillig trollt. Es ist der große Graue, der, wie auch zwei kleinere rote Exemplare, Covid sei gedankt, hier schon eine Weile „Reclaim the Streets“ spielt, und dies ganz ohne politisches Statement.

Am Tatort finde ich in einer nicht allzu großen Blutlache ein niedliches Findelkind, dem allerdings der Fuchs scheinbar die Vorderfüße und das Schwänzlein angeknabbert hat.

Der junge Igel rollt sich ängstlich zusammen; ich rolle ihn in eine Tüte und trage ihn die paar hundert Meter bis in meine Hinterhofzelle in der Zellestraße. O.k., du bekommst jetzt erst mal Asyl bei mir, schließlich ist der Fuchs noch immer hungrig, und ich hab ja gerade Zeit und ein wenig Platz. Das Tier hat bereits aufgehört zu bluten. Ich wasche das alte Blut ab, sodann packe ich es in eine sehr stabile Bücherkiste aus Pappkarton. Dann nochmal runter zum Laubsammeln. Mein Asylant soll es schließlich gemütlich haben. Ein Schälchen Wasser in den Karton. Jetzt googeln: Was frisst eigentlich ein Igel? Oha, keine Milch, Igel haben eine Laktoseintoleranz. Aber Rührei geht immer. Also schnell noch ein paar Eier in die Pfanne. Dann teilen wir und speisen gemeinsam, ein jeder von seinem Tellerchen. Ich hau mich hin und alsbald beginnt ein ziemlicher Radau. Irgendwann schlafe ich trotz des lauten Schabens und Nagens ein. Später werde ich sehen, dass der Freiheitsdrang gewaltig sein muss. Das Tier hat trotz der Verletzungen die Kiste zerlegt. So habe ich ihn dann „Exit“ getauft.

Da ich gerade umgezogen bin, stapeln sich überall Umzugskisten. Noch kein Platz für ein Bett. Ich schlafe auf einer Matratze im Flur. Irgendwann erwache ich von einen leisen, stetigen Schnaufen. Der Igel hat es sich direkt vor meinem Gesicht bequem gemacht und schläft scheinbar. Die Wohnung hat in Zeiten überhöhter Heizkosten offenbar nicht die optimale Temperatur für ein kleines Igelchen. Wie nimmt so ein Tier uns Menschen war? Bin ich für den so was wie ein lebensrettendes, freundliches Echsenmonster? Godzilla gar, der jetzt mit seinem Atem ein Igelkind wärmt? Der Gedanke erheitert mein Gemüt und ich schlafe wieder ein.

Ich erwache in einem mörderischen Gestank. Der Igel ist verschwunden, vorher hat er Godzilla direkt vor die Nase gekackt. Vergesst den Gestank von Hundescheiße oder Katzenkacke. Die Exkremente eines Igels toppen alles. Mein Asylant wohnt jetzt an wechselnden Standorten zwischen den Kisten, wo ich nicht herankomme, und setzt dort immer neue Duftmarken. Nur wenn Godzilla mit dem Geruch von Rührei lockt, bequemt er sich heraus. Ein Versuch mit empfohlener Katzennahrung scheitert katastrophal. Noch während des gierigen Fressens läuft alles hinten als braune Brühe wieder raus. Traut bloß keinen Ratgebern im Internet!

Infolge von Lockdown, Umzug und allgemeiner persönlicher Befindlichkeit kann ich grad keinen Tierarzt bezahlen. Im Warenkorb von Hartz 4 ist kein Platz für Nächstenliebe.

Das Tierheim will keinen versehrten Igel. Wir werden also noch zwei Tage Godzilla versus Igel spielen, wobei der Igel immer gewinnt. Sehr bald habe ich das Spiel satt. Endlich finde ich eine Igelstation in Berlin-Hermsdorf, die Einzige weit und breit, die von einem gemeinnützigen Verein betrieben wird und bereit ist, einen verletzten Igel ohne ärztliches Attest aufzunehmen. Also mit extra stabiler Kiste per S-Bahn nach Hermsdorf, dann noch ein Stück weit laufen. Ich komme erst ein paar Minuten nach der offiziellen Schließzeit an. Trotzdem werde ich freundlich empfangen. Die Frau dort arbeitet recht professionell. Das Tierchen kriegt erstmal eine kleine Spritze gegen die Schmerzen, jetzt endlich lässt es sich auseinander biegen. Dann die genaue Diagnose: Beide kompletten Vorderbeine hat der Fuchs bereits verdaut, zudem einen guten Teil vom Schwanz. Wie hat der Igel in dem Zustand bloß die Kiste zerlegt? Morgen wird das Tier endlich ärztlich behandelt werden.

Sodann muss ich ein Formular ausfüllen. In Deutschland geht nichts ohne Formulare. „Sie wollen doch sicher später den Igel wieder zurück, das wollen die Meisten.“ „Oh Neieiein!“ Wir verabschieden uns freundlich. Dem Igel scheint`s egal zu sein.

Epilog:
Stadtfuchs und Igel waren bis heute so nett, mir nie in meinen reichhaltigen Albträumen zu erscheinen.