An einem außergewöhnlich warmen Abend im Oktober 1997 überfiel mich ein heftiger Heißhunger auf meine Lieblingsmakronen. Also schwang ich mich auf‘s Fahrrad und fuhr zu meinem Lieblingsmakronen-Bäcker am Schlesischen Tor. Wenig später saß ich auf einer Bank, gleich neben dem Laden, und aß voller Genuss dieses ofenfrische, noch warme Gebäck.

Da erblickte ich Kevin und seine Mutti, Bettina. Wir waren gut befreundet und lebten unweit vom Frankfurter Tor in unmittelbarer Nachbarschaft. Gleichermaßen überrascht und erfreut über unsere Begegnung wollten wir voneinander wissen, welch glücklicher Zufall uns zu abendlicher Stunde hier in Kreuzberg zusammengeführt hatte. Ich erzählte ihnen von dem Bäcker und gab jedem ein Stück von meiner Makrone.  Und derweil Bettina darauf schnurstracks in den Laden eilte, erzählte Kevin: „Ich werde morgen 10 Jahre alt. Und deshalb durfte ich mir eine Nachtfahrt wünschen - quer durch Kreuzberg hinein in meinen ersten runden Geburtstag , mit Picknick und so. Mama hat alles eingepackt. Liegt im Fahrradkorb.“

Kaum war Bettina vom Laden zurück, bettelte Kevin lautstark: „Komm doch einfach mit, Karola! Bitte, bitte!“

Da ich nichts weiter vorhatte und für alles offen war und auch Bettina lächelnd zustimmte, brachen wir nun zu dritt auf ins Ungewisse.

Zunächst ging’s auf die Köpenicker Straße, dann in Richtung Engelbecken, wo wir eine Pause mit Erdbeermilch einlegten. Wir ließen uns viel Zeit. Kevin schnatterte unentwegt. Klar, das war ja auch absolut aufregend für ihn. Und hätte er nicht geschnattert, wäre er wohl vor lauter Aufregung geplatzt…

Dann ging es weiter auf dem grünen Mittelstreifen bis hoch zur Skalitzer Straße. Und als es Mitternacht war, saßen wir auf einer Bank am Landwehrkanal, sangen laut: „Happy birthday to you…“ und stießen mit Kindersekt auf Kevins 10. Geburtstag an. Dazu aßen wir genussvoll ein kaltes Grillhähnchen und unsere Makronen. Nie werde ich die leuchtenden braunen Augen dieses Jungen in jener Nacht vergessen…

Irgendwann, nach mehreren Gruselgeschichten und viel Lachen, meinte Bettina, wir könnten uns doch jetzt langsam auf den Heimweg machen. Und so brachen wir auf, fuhren weiter, immer am Landwehrkanal entlang, Richtung Heimat.

Aber wie das so ist- was der menschliche Körper zu sich nimmt, drängt irgendwann wieder nach draußen... Kevin meldete als Erster, dass er mal ganz dringend auf die Toilette müsste. Wir Frauen reagierten: „Ich auch! Ich auch!“, womit klar war, dass wir jetzt nach einem geeigneten Örtchen suchen mussten. Zum Glück befanden wir uns bereits in Höhe des Heckmannufers. Wir überquerten den Landwehrkanal und fuhren auf die Puschkinallee. Dort öffnete sich rechterhand vor uns der „Schlesische Busch“,  eine große Brache mit reichlich Buschwerk. Wir stiegen von unseren Rädern, stapften durch das kniehohe Gras, und jeder fand bald sein wie für ihn geschaffenes Örtchen… Da hockten wir nun, in recht großem Abstand voneinander, in Gottes freier Natur.

Und da war es wieder, mein altes Problem. Seit der frühen Schulzeit schämte ich mich, wenn ich auf Gemeinschaftstoiletten meine Notdurft verrichten musste. Ich schämte mich all der Geräusche und Gerüche die dabei zwangsläufig entstanden, und die die Anderen in den benachbarten Kabinen mithören bzw. mitriechen konnten… Am schlimmsten war’s, wenn Freunde in der Nähe waren. Ich verkrampfte dann derart vor Scham, dass ich oft unverrichteter Dinge die Toilette wieder verließ… Nun hockte ich hier, mit Bettina und Kevin, und hatte wieder das gleiche Problem wie ehedem. Bis hier war alles so schön gewesen an diesem Abend, so herrlich ungezwungen… Und nun das! All meine Lockerheit schwand gerade dahin, als Bettina plötzlich laut loslachte. Ich dachte im ersten Moment, sie würde tatsächlich über mich lachen. Aber warum sollte sie? Sie hockte da hinten irgendwo im Nirgendwo. Sehen konnte ich sie nicht, aber hören. Ihr schallendes Lachen, und es wurde immer lauter. Ich dachte schon, sie wär vielleicht in irgendwas reingetreten und würde sich jetzt köstlich über ihr eigenes Missgeschick amüsieren. „Was ist los?“ rief ich in ihre Richtung. Aber statt eine Antwort zu geben, lachte sie noch lauter. Erst als Kevin mit besorgtem Ton „Mama!“ rief, kam von ihr: „Hey, Leute! Wisst ihr eigentlich wo wir hier gerade hocken? Guckt doch mal richtig hin! Da hinten steht noch der ehemalige Wachturm. Wir scheißen hier gerade mitten auf den Grenzstreifen! Hey, Karola, hättest du je in deinem Leben gedacht, dass du hier mal einen ordentlichen Haufen hinsetzen würdest?“

Natürlich hatte ich nie den leisesten Gedanken daran verschwendet. Wer dachte denn an sowas? Niemand.

Was jetzt geschah, nennt man wohl durchschlagenden Therapieerfolg. Ich lachte genau wie Bettina, zuerst etwas verhalten, dann aber laut und lauter. Und mein Darm lachte mit mir. Ich verlor alle Hemmungen und „ballerte“, was das Zeug hielt… Irgendwie kam mir dabei der Gedanke an die Mauern von Jericho, die von 7 Posaunen zu Fall gebracht worden waren. Ich lachte und lachte. Es war mir plötzlich sooo egal, welche Geräusche oder Gerüche nach außen drangen. Das Motto der Stunde lautete im wahrsten Sinne des Wortes: Scheiß auf die Grenze! Scheiß auf alte Ängste- welcher Art auch immer!

Etwa eine Stunde später waren wir wieder in unserem Kiez. Den ganzen Heimweg mussten Bettina und ich immer wieder schallend lachen. Obgleich wir versuchten, Kevin irgendwie unser Gefühl auf dem Grenzstreifen zu erklären, konnte er doch damit herzlich wenig anfangen. Er war ganz in seinem Geburtstagshimmel, und als wir uns verabschiedeten, waren wir, alle Drei, einfach nur glücklich.

Kurzbiografie Karola Walter

Geb. 1957 in der Altmark (Sachsen-Anhalt), lebe seit 1980 in Friedrichshain, arbeitete u.a. als Lehrerin, Puppenspielerin, Zeitungsverkäuferin, Galeristin. Mein Leitsatz: Das Leben ist bunt.
Hobbies: Garten, Fotografie, Geschichten schreiben und erzählen, Malerei, kreativ sein