Nein, Frau K. war wirklich nicht beliebt. Sie machte jedem, der in dieses Haus zog, recht schnell mit gehobener Stimme klar, wie wichtig sie war und dass sie hier das Sagen hatte. Sie verwaltete das H A U S B U C H *. Wer dieses grüne Heftchen hatte, der hütete ein Geheimnis, in das nur noch Mitarbeiter der Staatssicherheit und der Polizei eingeweiht waren. Jeder Besucher eines Wohnhauses hatte sich spätestens nach 3 Tagen, die aus dem Ausland, einschl. BRD und Westberlin, sogar binnen 24 Stunden, hier einzutragen. Taten sie es nicht, stand unser „Hausgendarm“, wie wir sie bald nannten, vor der Tür. Nicht alle sogenannten „Hausbuchbeauftragten“ waren vom Schlage der Frau K. Aber sie gehörte zu jenen, die meinten, durch das Hausbuch eine besondere Form von Macht bekommen zu haben, führte sie sich doch derart kontrollierend auf, als wäre sie die Vertreterin von Jugendamt, Gesundheitsamt und Hausverwaltung in einer Person. Und so war jede Begegnung mit ihr begleitet von aufgesetzter Freundlichkeit und großer Vorsicht.

Überhaupt - wahre Nachbarschaft kannte ich lange nicht in diesem Haus, in das ich 1985 eingezogen war. Zwei Ereignisse machten schließlich, dass sich alles änderte. Zunächst kam die Wende, was zur Folge hatte, dass Frau K. das Hausbuch in der Meldestelle abgeben musste und damit auch all ihre Macht. Sie war nun Gleiche unter Gleichen…

Und dann brannte es an einem kalten Wochenende 1992 schräg unter mir in Günthers Wohnung. Die Feuerwehr klingelte sämtliche Bewohner des Hinterhauses raus. Binnen weniger Minuten standen alle auf dem Hof und sahen gespannt den Löscharbeiten zu. Endlich war mal richtig was los. Vor allem kam man jetzt mit Leuten ins Gespräch, die man sonst nur mit einem flüchtigen „Hallo!“ gegrüßt hatte. Nun machten wir einander wirklich bekannt. Und als dann noch jemand aus dem Vorderhaus solidarisch eine Thermoskanne voll heißem Tee und Tassen brachte, schuf das die Basis für neue nachbarschaftliche Beziehungen. Wenn auch nicht mit allen, so unterhielten wir uns doch fortan öfter im Hausflur, tranken mit dem Einen oder Anderen eine Tasse Kaffee und grillten manchen Sommer auf der benachbarten Wiese. Partys wurden gefeiert. Sie wurden vorher auf einem großen Blatt Papier an der Haustür freundlich angekündigt, und meist war auch jeder, der sich angesprochen fühlte oder wegen des Lärms nicht schlafen konnte, eingeladen zum Mitfeiern.

Und Frau K. zog fort.

Es war eine gute Zeit. Aber wie das so ist – Menschen kommen und gehen. Sie gründen Familien, brauchen mehr Platz, bekommen in einer anderen Stadt oder sogar einem anderen Land einen toll bezahlten Job, ziehen fort. Und so musste ich im Verlaufe der Jahre liebgewonnene Nachbarn immer wieder loslassen.

Zu Beginn der 2000er Jahre verlor ich den Überblick darüber, wer überhaupt noch hier wohnt. Es war eine Zeit ständiger Ein- und Auszüge. Viele Nachbarn lernte ich nur sehr flüchtig kennen. Ich erinnere mich an die junge Hippie-Familie, die zu meinem Erstaunen sogar im Winter barfuß draußen herumlief und nach einem heftigen Wasserrohrbruch aufs Land zog, oder an den jungen Mann aus dem Vorderhaus, der lustige rote Locken hatte wie Pumuckel und sich eines Tages, wie seine Mutter später sagte, aus tiefstem Trennungsschmerz das Leben nahm. Und dann war da auch die alkoholkranke junge Frau, die irgendwann ihre Miete nicht mehr bezahlen konnte und plötzlich so überstürzt auszog, dass mehrere Umzugskartons hinten aus ihrem Combi herausfielen - sie hielt nicht an, fuhr im Zick-Zack die Mühsamstraße hoch und entschwand unseren staunenden Blicken…

Mit jedem Auszug stiegen die Mieten für die frei gewordenen Wohnungen, wodurch sich auch die soziale Struktur im Haus zu ändern begann. Klar, für eine hohe Miete braucht man ein entsprechendes Einkommen. Ich glaube, ich war irgendwann die einzige Hartz IV – Empfängerin im Haus. Immer häufiger hörte ich nicht nur das Wort „Gentrifizierung“, ich fühlte es. Ohne Aussicht auf einen Job und noch dazu in einer tiefen Beziehungskrise begann für mich eine Zeit zunehmender Vereinsamung. Mich beschlich damals eine existentielle Angst, die ich nie zuvor in meinem Leben kennengelernt hatte. „Was passiert, wenn das Amt die Miete nicht mehr zahlt? Wo soll ich dann hin?“ Das Gespenst der Armut hatte mich fest im Griff.

Die Zeit gemeinsamer Partys war vorbei. Jeder machte irgendwie sein Ding, nichts mehr gemeinsam… Dazu kam, dass ich in meinem Kiez immer öfter jungen Menschen mit Drogenproblemen begegnete. Kurz hintereinander starben zwei junge Männer in meinem Haus, ausgerechnet in der Wohnung geraderüber. Der eine fiel aus dem Fenster, nachdem er völlig zugekifft im Fensterrahmen sitzend eingeschlafen war. Der andere stolperte im Drogenrausch in einen Standspiegel und verblutete auf der Couch.

Ich wäre wohl in absehbarer Zeit in eine tiefe Depression gerutscht, nachdem auch noch mein Hund verstorben war, hätte mich nicht  eines Tages Renate angerufen, eine liebenswerte ehemalige Nachbarin, die in den Wedding gezogen war: „Du, ich hab da einen Job für dich!“

Um es kurz zu machen – es war kein Job, sondern eine Praktikumsstelle. Die war mein Sprungbrett zu einer 2jährigen Weiterbildung, und 1 Jahr später bekam ich endlich eine gute Arbeit. Das holte mich erst einmal aus der Armut und auch aus der Isolation, denn ich bekam neben einer sinnvollen Tätigkeit auch tolle Kollegen. Einige wurden sogar Freunde. Doch zu Hause, in dem Mietshaus in der Petersburger Straße, fand ich einfach keinen rechten Anschluss.

Aber so, wie es 1992 der Wohnungsbrand war, kam mir auch jetzt ein unglückliches Ereignis zu Hilfe - Covid 19.

Die Gedanken kreisten um die Geschehnisse in China und Italien. Ich war mittlerweile 62 und hatte erst ein Jahr zuvor eine schwere Lungenentzündung überstanden, gehörte also zur Risikogruppe. Es gelang mir, die ersten Wochen der Pandemie mit einer Mischung aus Humor und Heldenmut zu überstehen. Ähnlich einem Wesen von einem anderen Stern ging ich nachts mit Schutzmaske, Skibrille und blauen OP-Handschuhen einkaufen.

Dann aber landete ich abrupt in purer Hilflosigkeit, als ich eines Abends daheim unglücklich stürzte und mir dabei im rechten Knie mehrere Schnittwunden zuzog. Mit diesen Verletzungen konnte ich vorläufig keine 5 Treppen laufen, nicht nach unten und schon gar nicht wieder hinauf. „Was nun? Wer kann mich mit Lebensmitteln versorgen? Wer bringt den Müll runter? Wer holt mir Verbandszeug aus der Apotheke?“

Zunächst half der Mann einer lieben Freundin aus Stralau. Doch als ich sah, wie schwer es für ihn war, mit Maske und vollen Einkaufstaschen den Weg bis zu mir unter‘s Dach zurückzulegen, war mir klar, dass ich weiter nach einer Lösung suchen musste. Ich fand sie bei nebenan.de.

Seit 2 Jahren war ich bereits Mitglied dieser sozialen Plattform. Egal, ob jemand zusätzliche Muskelkraft beim Umzug brauchte, Rat bei PC-Problemen oder einem verstopften Abfluss – hier konnte er meist Hilfe bekommen. Außerdem, und dafür hatte ich vor allem nebenan.de genutzt, wurde viel verschenkt oder gegen einen geringen Obolus, wie eine Tafel Schokolade, getauscht. Nun, in Corona-Zeiten, boten hier Menschen auch ihre Unterstützung bei der Erledigung verschiedenster Gänge an. Und sie kamen direkt aus dem Kiez.

Klar, war mir mulmig zumute, völlig fremde Menschen um häusliche Hilfe zu bitten. Aber ich war nun mal darauf angewiesen. Also verfasste ich einen Hilferuf und schickte ihn ins WorldWideWeb. Und siehe da – ich bekam, was ich brauchte – Bettina und Ute, die die Zeit des HomeOffice sinnvoll ausfüllen wollten. Sie teilten sich die Besorgungen und brachten auch meinen Müll runter. Eine tolle Sache war das!!!

Und dann, als es mir wieder besser ging und ich eines Tages über den Hof humpelte, boten auch noch Viktor aus dem 2. Stock und Fine aus dem Vorderhaus ihre Hilfe an. Fine half mir bei der Fahrradreparatur und Viktor schleppte meine Einkäufe nach oben. 2 Wochen später bedankte ich mich mit einem großen Topf voll Linsensuppe und einer schönen Flasche Rotwein.

Und da war es wieder, dieses Nestgefühl von damals, das ich so lange vermisst hatte. Ich bin nicht mehr allein, bin mittendrin, im Haus, im Kiez. Menschen sorgen sich um mich und helfen. Die Zwei tun mir gut. Junge kreative Geister. Und ich - bin die Alterspräsidentin des Hauses, in dem ich nun schon 35 Jahre wohne und über das es viele Geschichten zu erzählen gibt…

* https://de.wikipedia.org/wiki/Hausbuch_(DDR)

Kurzbiografie Karola Walter

Geb. 1957 in der Altmark (Sachsen-Anhalt), lebe seit 1980 in Friedrichshain, arbeitete u.a. als Lehrerin, Puppenspielerin, Zeitungsverkäuferin, Galeristin. Mein Leitsatz: Das Leben ist bunt.
Hobbies: Garten, Fotografie, Geschichten schreiben und erzählen, Malerei, kreativ sein