Es ist jetzt mehr als 25 Jahre her und doch erinnere ich mich, als wäre es erst gestern gewesen.

Ich war gerade mit dem Saubermachen meiner Wohnung fertig geworden. Am Ende des „Großkampftages“ galt es, nur noch ein paar Besorgungen in der Kaufhalle zu machen. Und so stand ich an jenem späten Nachmittag an den Ofen gelehnt im Zimmer meines Sohnes und dachte nach, was auf meinem Einkaufszettel noch fehlte - als etwas Seltsames geschah:

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich plötzlich das Gefühl, als würde der Boden unter mir kurz um wenige Millimeter in die Höhe schnellen und sich sofort wieder sanft senken. Ich hörte, wie gleichzeitig die Wände leise knisterten. Und dann rieselte feinster weißer Farbstaub von der Zimmerdecke, keine große Wolke, aber doch für einen Moment sichtbar.

Ich war kurz verstört. Was war das? Seltsam… Unheimlich…

Dann erinnerte ich mich, dass ich während meiner Schulzeit mitten im Havelland erlebt hatte, wie eines Abends die Deckenlampe über dem Esstisch meiner Eltern hin und her schaukelte, ohne dass sie jemand zuvor berührt hatte. Und am nächsten Tag erfuhren wir dann, dass es ein schweres Beben in Norditalien gegeben hatte, dessen Ausläufer bis nach Mitteldeutschland zu spüren gewesen waren.

Also schlussfolgerte ich jetzt: Bestimmt war das wieder irgendwo weit weg ein Erdbeben.

Mich noch länger damit zu beschäftigen, fehlte mir die Zeit. Ich hatte es eilig, wusste ich doch, dass kurz nach 18 Uhr mein Sohn aus dem Kinderladen nach Hause kam. Bis dahin wollte ich wieder zurück sein.

Also ging’s erst mal „im Affenzahn“ zur Sparkasse, die sich damals noch Mühsam-/Ecke Petersburger Straße befand. Doch dort erwartete mich eine lange Warteschlange. Ich hätte es wissen müssen! Wie üblich war nur einer von drei Schaltern besetzt. Schitt! Ob ich wollte oder nicht, ich musste mich hinten anstellen - Bargeld war nun mal DAS Zahlungsmittel jener Zeit.

Kaum, dass ich mich eingereiht hatte, wurde es auf der Straße sehr laut. Sirenen waren zu hören, Krankenwagen, Polizei, Feuerwehr – und es nahm kein Ende. Hunde, die draußen angebunden waren, jaulten und kläfften laut, in der Warteschlange wurde es sehr unruhig. Mensch, was war da nur los?!? Man hörte ja hier des Öfteren die Sirene eines Krankenwagens, weil unweit von hier die Unfallstelle vom Krankenhaus Friedrichshain war. Und manchmal hörte man auch 2… 3… Polizeiautos hintereinander, aber derart geballt habe ich nie zuvor und nie wieder danach so viele vorbeirauschende Sirenen gehört.

Da entwich es mir sarkastisch: „Mann, was für ein Tam-Tam! Die tun ja geradewegs so, als wär‘ ‘ne Bombe explodiert!“  Worauf die Frau, die vor mir stand, sich umdrehte und vorwurfsvoll sagte: „Na, haben Sie’s denn nicht mitgekriegt?! Es kam eben in den Nachrichten! In der Pettenkofer ist tatsächlich ‘ne Bombe hochgegangen!“

Das war es also gewesen! Dieser „Hüpfer“ meines Wohnhauses, der weiße Farbstaub… Eine Druckwelle!

Ich weiß noch, dass ich mich in diesem Moment für meine große Klappe so richtig schämte und am liebsten in irgendein Erdloch gekrochen wäre…

Am Abend saß ich dann vor dem Fernseher und sah die ersten Bilder vom Unglücksort.

3 Tote, 17 zum Teil schwer Verletzte und eine Menge Sachschaden hatte es gegeben. Das Ganze war bei Bauarbeiten, genauer gesagt, bei den Arbeiten am Fundament eines „Lückenbaus“ passiert.

Als dann die Fernsehkamera auf die angrenzenden Gebäude schwenkte, durchfuhr es mich eiskalt. Eine Giebelwand war von der 3. Etage bis zum Dachboden durch die Druckwelle so stark zerstört worden, dass dort jetzt 2 große klaffende Löcher den Blick auf das Innere der Wohnungen freigaben. „Waltraud! Scheiße! Das da ist Waltrauds Wohnung!“

Ich schnappte mein Portemonnaie, sagte meinem Sohn Bescheid und rannte zur nächstgelegenen Telefonzelle. Doch leider erreichte ich niemanden aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis, der mir irgendeine Auskunft hätte geben können.

Ich wollte einfach nur wissen, was mit Waltraud los war…

In den Jahren, in denen ich im Hort in der Pettenkofer Straße gearbeitet hatte, war sie mir eine wunderbare Kollegin gewesen, die ihre Berufserfahrungen gern an die Jüngeren weitergab. Sie hatte uns quasi „unter ihre mütterlichen Fittiche“ genommen und in manch brisanter Situation, vor allem im Umgang mit Eltern und Lehrerkollegen, geholfen. Stets konnte ich auch mit meinem ganz privaten Kummer zu ihr kommen, und so war im Laufe der Jahre zwischen uns eine herzliche Freundschaft entstanden. Sollte ihr etwa jetzt, mit 64 Jahren, das zugestoßen sein? „Dieser Scheiß Krieg!“, pochte es in meinem Kopf, „Dieser Scheiß Krieg!“

Um der Ungewissheit ein Ende zu setzen, ging ich am nächsten Tag zur Schule in der Pettenkoferstraße, meinem ehemaligen Arbeitsplatz. Aber auch dort konnte mir niemand weiterhelfen. Klar schwang da auch eine herzliche Wiedersehensfreude mit, aber ich traf vor allem auf sorgenvolle Gesichter, die die gleiche Frage beschäftigte wie mich.

Bevor ich wieder ging, verabredeten wir, schnellstmöglich einander zu benachrichtigen, falls jemand Neuigkeiten hatte.

Am Abend dann stand ich erneut in der Telefonzelle und erhielt ENDLICH die Nachricht, die trotz dieser schrecklichen Tragödie soooo gut tat: Waltraud ging es gut. Sie war unverletzt! Und überhaupt - zum Zeitpunkt der Explosion war sie gar nicht in Berlin gewesen. Wieder angekommen in meiner Wohnung, weinte ich dicke Tränen der Freude…

Einige Wochen später machte ich dann meinen ersten Besuch bei Waltraud. Die Stadt hatte schnell und unkompliziert gehandelt und ihr eine modernisierte Altbau-Wohnung in der Heidenfeldstraße gegeben. Mein Gott, war ich froh, Waltraud völlig unversehrt wiederzusehen! Als hätten uns Jahre getrennt, lagen wir uns in den Armen.

Wie ich’s bei ihr gewohnt war, stellte sie Kaffee und Kuchen auf den Tisch und begann schließlich zu erzählen:

Normalerweise wäre sie an diesem Tag zu diesem Zeitpunkt tatsächlich in ihrer Wohnung gewesen, und normalerweise hätte sie dann auch in diesem von der Explosion völlig verwüsteten Zimmer gesessen und Fernsehen geschaut…

Aber einen Tag zuvor hatte sie einen überraschenden Anruf von einer Freundin bekommen. Deren Tochter war plötzlich schwer erkrankt und da es ihr selbst nicht möglich war zu helfen, suchte sie nun dringend einen Babysitter für das Enkelchen. Waltraud hatte sofort zugesagt, ihre Reisetasche gepackt und war am nächsten Morgen zu ihr gefahren.

Während Waltraud davon sprach, beteuerte sie immer wieder, dass diese Entscheidung – nämlich für mehrere Tage oder gar Wochen wegzufahren - völlig entgegen ihren Gewohnheiten gewesen war, dass sie seit dem frühen Tod ihres Mannes die Wohnung nie für längere Zeit verlassen hatte. Er war ihre große Liebe gewesen, und hier, in ihrem gemeinsam liebevoll geschaffenen Zuhause, konnte sie sich ihm nahe fühlen.

Während wir uns unterhielten, kamen ihr immer wieder die Tränen. Mir war nicht entgangen, dass Waltraud arg abgenommen hatte… Die durchweinten Nächte waren ihr anzusehen. Zeitweilig wirkte sie auf mich, als wäre sie des Lebens müde geworden. Heute weiß ich: Sie war entwurzelt.

Die neue Wohnung war völlig neu eingerichtet, modern, die Versicherung hatte zügig gezahlt... Doch die alte gewohnte Behaglichkeit zwischen Möbeln der 60er Jahre, Familienfotos, Handarbeiten und kleinen Souvenirs, von denen jedes seine eigene kleine Geschichte erzählte, gab es nicht mehr. Die Explosion hatte nahezu alles zerstört. Nur ein paar Kleinigkeiten und ein paar Unterlagen hatte man retten können…

Wir redeten lange an diesem Tag, scherzten auch, doch irgendwann meinte Waltraud traurig und gleichermaßen ernst:„Ich werde hier nie ankommen, Karola. Das hier ist nicht mein Zuhause, wird’s wohl auch nie werden! Auch dieser Kiez. Ich gehöre hier nicht her.“

In der darauffolgenden Zeit sahen wir uns recht selten, jede hatte irgendwie mit sich selbst zu tun…

Doch sie sollte recht behalten. 2 Jahre später zog sie erneut um, in eine sonnendurchflutete Neubauwohnung in der Liebigstraße mit einem großen Balkon. Und da war sie dann auch wieder – meine Waltraud. Sternzeichen: Löwin! Sie wurde Mitglied einer Senioren-Wandergruppe, eines Schwimmvereins für ältere Damen, machte viele Busreisen, verbrachte viel Zeit mit ihrer Enkelin und pflegte gesellige Nachmittage mit ihren Freundinnen. Sie war aktiver im Leben als je zuvor. Irgendwann verriet sie mir, was diese schöne Veränderung verursacht hatte: „Es war die Wohnung, Karola. Nicht die Sonne, nicht der Neubau. DIE LAGE! Wenn ich hier auf dem Balkon sitze und nach links schaue, Richtung Pettenkoferstraße, bin ich meinem Mann nahe. Schaue ich nach rechts, zu den Türmen vom Frankfurter Tor, bin ich meiner Mutti nahe. Wir haben genau dort am Ende des Krieges als Trümmerfrauen Steine geklopft. Hier schließt sich der Kreis…“

Fortan trafen wir uns wieder häufiger. Und natürlich sprachen wir auch ab und zu über jenen 15. September 1994. Manchmal tat es Waltraud auch nach all den Jahren noch weh….

Und manchmal war da nur noch ein kurzes Aufblitzen der Erinnerungen in Form einer kleinen Bemerkung wie:„Ich hab neulich den Bombenhund wiedergesehen.“ Dann huschte uns beiden immer ein Lächeln über’s Gesicht. Es handelte sich um einen kleinen hübschen Mischling, der bei der Explosion das linke Vorderbein verloren hatte und seitdem auf 3 Beinen durch Friedrichshain hüpfte, quicklebendig, als wär’s das Normalste der Welt, und wenn man ihn anschaute, hatte man immer das Gefühl, er würde lachen… Für alle, die seine Geschichte kannten, war’s der „Bombenhund“.

Irgendwann, wir saßen mal wieder bei Kaffe und Kuchen zusammen, meinte Waltraud zu mir: „Langsam glaube ich, Karola, du hattest recht. Denn je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu der Erkenntnis, dass es wohl doch einen lieben Gott geben muss. Wer sonst sollte an diesem Tag an meinem Schicksalsrad gedreht haben!?!“

Waltraud verstarb im Januar 2011 nach kurzer schwerer Krankheit. Der liebe Gott hatte ihr an jenem tragischen Tag weitere 16 Jahre geschenkt, gute Jahre.

Kurzbiografie Karola Walter

Geb. 1957 in der Altmark (Sachsen-Anhalt), lebe seit 1980 in Friedrichshain, arbeitete u.a. als Lehrerin, Puppenspielerin, Zeitungsverkäuferin, Galeristin. Mein Leitsatz: Das Leben ist bunt.
Hobbies: Garten, Fotografie, Geschichten schreiben und erzählen, Malerei, kreativ sein