1. Mai 2020, 11.00 Uhr:
Zum ersten Mal ist es so, wie die meisten Menschen normalerweise einen Feiertag erleben.
Vogelzwitschern, ein paar Autos.
Kaum Menschen, kein Grillgeruch, keine Bühnenanlage, kein Hassgebrüll, keine Sirenen, keine Hubschrauber.

Aber eigentlich mag ich Feste. Was ist schiefgelaufen, wenn man auf ein abgesagtes Fest so reagiert?

An 1. Mai 1987 saß ich mit meiner Freundin vor der Bühne an der Kirche am Lausitzer Platz. Über deren Portal steht "Oh Herr, bleib bei uns, denn es will Abend werden".

Früher wurde es erst später im Jahr warm. Es war der erste Frühlingstag, an dem es warm genug war, um überhaupt draußen zu sitzen. Es gab zwar ein paar Wolken, aber genug Sonne, um dies hier sehr zu genießen.

Hätte es an diesem Tag stark geregnet, wäre die Geschichte anders verlaufen.

Um uns herum war diese damals für uns Ex-Kleinstädter noch immer wundersam exotische Kreuzberger Mischung aus Älteren, Familien mit Kindern, Studenten, Freaks, Punks und Einwanderern aus der Türkei. Auf der Bühne wechselten Musik und Ansprachen, die sich fast alle auch auf die früh morgens stattgefundene Räumung des VoBo(Volkszählungsboykott)-Büros im Mehringhofs bezogen. Die allermeisten Anwesenden aber wollten in erster Linie ein Straßenfest und genossen ihr Bier, das man damals mangels Spätis noch von der Tanke oder der Eckkneipe besorgte.

In Kreuzberg war es schon öfters zu - auch gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Teilen der Linken, etwa den Hausbesetzern und der Polizei gekommen. In der Luft lag eine gewisse Spannung, aber wir waren noch zu sehr Neuberliner, um diese richtig einzuordnen - warum auch, wenn man zwischen tobenden Kindern auf der Wiese sitzt.

Von unserer Position aus nicht sichtbar haben dann nachmittags irgendwelche Leute hinter der Kirche einen unbesetzten Streifenwagen umgeworfen, was erste Reaktionen der Polizei provozierte. Daraufhin durchlief den mittlerweile stark besuchten Platz eine Art Welle. Jeder schien diese Spannung nun deutlich zu spüren, auch wenn kaum einer wusste, was los war.

Als erstes verschwanden die meisten Familien mit Kindern. Die Lautsprecheranlage wurde ausgeschaltet. Man hörte statt Musik Sirenen von Einsatzwagen. Kaum jemand saß noch auf dem Boden.

Auf einmal bewegten sich viele Menschen zunehmend schneller vom hinteren Teil des Platzes in unsere Richtung. Es wurde lauter. Ein übler Geruch von - wir lernten schnell - Tränengas wehte über den Platz. "Die Bullen räumen!" rief uns jemand zu.

Man kann in einer in Bewegung geratenen Menschenmenge nicht unbeteiligt bleiben, es springt irgendeine Art von Funke über und man ist, ob man will oder nicht, auf einmal Teil von etwas größerem.

Erst recht, wenn man das nicht kennt. Bürgerkriegsartige Szenen sahen wir sonst nur in TV-Berichten aus Beirut oder Belfast, aber nicht vor der eignen Haustür.

Wir konnten es zuerst gar nicht fassen, mit welcher Brutalität deutsche Polizisten auf Besucher eines bis dahin aus unserer Sicht völlig friedlichem Straßenfest einprügelten. Die ersten Steinwürfe in umgekehrter Richtung wurden daher von vielen mit Klatschen und lautem Johlen befeuert. Es wurde gefährlich.

Autonome und vermehrt eintreffende Schaulustige bauten Barrikaden und setzten diese in Brand. Mollis flogen. Erste Geschäfte, vorzugsweise Getränke-Läden wurden geplündert.

Die Ex-Kleinstädter hatten genug gesehen und zogen sich in vermeintlich häusliche Sicherheit zurück. Aus dem Fenster konnte man bis in den frühen Morgen sehen, wie nicht nur Polizeiautos, sondern auch Löschfahrzeuge der Feuerwehr angegriffen wurden. Die Luft roch nach allerlei Verbranntem und Tränengas, überall Sirenen und drohende Lautsprecheransagen.

Man lass später in der Zeitung von über 30 geplünderten Geschäften, darunter einer abgebrannten Filiale der Supermarktkette Bolle, mehr als 100 Verletzten und 47 Festnahmen.

Dieser Tag bildete eine Art Blaupause für die kommenden 1.Mai-Veranstaltungen, die natürlich auch immer von aktuellen politischen Ereignissen, etwa der Wiedervereinigung beeinflusst wurden. Die einzelnen Abläufe sind z.B. auf Wikipedia gut dokumentiert. Ich will sie und ihre sehr unterschiedlichen Bewertungen seitens der Presse, der Politik, der Polizei oder der Akteure nicht nacherzählen.

Ich will nur beschreiben, wie ich als Anwohner diese Tage erlebte. Uns hat nämlich nie jemand gefragt, ob wir das auch wollen.

In meiner Erinnerung waren die Folgenden nicht nur von immer mehr Menschen besucht, sondern auch fast immer mindestens so gewalttätig wie der 1.Mai 1987. Eine Steigerung erfolgte durch Einsatz speziell aufgestellter Polizei-Einheiten aus Berlin, denen regelmäßig ein unverhältnismäßiger Einsatz von Gewalt vorgeworfen wurde und der, für die nächsten Jahre typisch, zunehmenden Beteiligung von oft stark angetrunkenen jungen Leuten und Touristen. Schon 1989 versuchte der damalige Innensenator Erich Pätzold(SPD) daher erstmals eine so genannte Strategie der Deeskalation, die wie in den Folgejahren jedoch fast immer dramatisch scheiterte.

Wenn man an diesem Tag das Haus verließ und heil zurückkommen wollte, zog man besser nichts Schwarzes an. Man brauchte wegen der wechselnden Sperren Ortskenntnis und oft lange Umwege. Ich stand einmal 20 Meter vor meiner Haustür vor einer Sperrkette, die hörbar von Beamten aus Süddeutschland gebildet wurde und wollte mit zwei Freunden und einem Sixpack Bier einfach nur wieder nach Hause. Um uns hunderte, teils sehr aufgeregte Menschen. Eine Phalanx aus Schilden und Helmen und Schlagstöcken vor mir. Einige der teilweise sehr jungen Polizisten hatte sichtbar Angst in den Augen. Ich bat betont höfflich um Durchlass für uns drei. Sie ignorierten. Ich zog meinen Personalausweis und sagte etwas deutlicher, dass ich hier wohne. Zwei Schlagstöcke hoben sich. Ich wurde sauer und verwies auf irgendwelche Grundrechte, wobei mich aber einer meiner Freunde, hierbei effektiv deeskalierend, an der Schulter nach hinten zog.

Über Jahre hinweg entwickelte sich in den Straßen um meine Wohnung ein völlig sinnentleertes Ritual, bei dem wie in einem absurden Ballett auf die durch eine Polizeikette erfolgte Räumung einer Strasse unweigerlich die Rückeinnahme durch offensichtlich randalegeile Besucher folgte. Von denen kannte man niemand mehr auch nur vom sehen her. Orchestriert durch sehr aggressives Gejohle ("Haut ab!"), den Einsatz von Feuerwerkskörpern, Sirenengeheul, drohenden Lautsprecheransagen und obendrein in der Luft stehende Polizei-Hubschrauber, die dem ganzen dann noch einen an „Apokalypse Now“ erinnernden Klang hinzufügten. Nur nicht so wie im Kino. Das Wummern der Rotoren erzeugte in den engen Strassen niederfrequente, und damit tatsächlich Angst und Aggression auslösende Schwingungen, die die Situation weiter verschärften.

Es macht im Nachhinein keinen Sinn über das Verhalten der Beteiligten ein Urteil zu fällen. In dieser extrem aufgeheizten Situation standen sich beide Seiten in der Bereitschaft unverhältnismäßige Gewalt auszuüben in nichts nach. Aus einem oberen Stockwerk auf der Straßenseite hat man dabei einen unfreiwilligen Logenplatz: Am frühen Nachmittag eines 1.Mais war es einigen vermummten Menschen gelungen, mit einer Kiste mit mehreren Molotow-Cocktails auf das Flachdach eines Eckhauses an der Oranien-/ Adalbertstrasse zu kommen. Auf der Kreuzung standen Besucher und mehrere Polizeieinheiten. Vom Dach flogen die angezündeten Flaschen in Gruppen von Polizisten, zerbrachen und setzten dabei in mindestens zwei Fällen Uniformhosen bis in Kniehöhe in Flammen, was von den umgebenden Beamten sofort gelöscht werden konnte. Bei einer Räumung meiner Strasse am selben Tag um Mitternacht lief eine Reihe von Polizisten geschlossen Schild an Schild von Hauswand zu Hauswand nach dreimaliger Ankündigung von einer Kreuzung zur nächsten. Genau in dem Moment als sie unser Haus passierten, öffnete sich die Haustür gegenüber und eine ältere Frau trat heraus, um ihren kleinen Hund noch einmal kurz raus zu lassen. Sie wurde sofort von zwei Beamten brutal in die Ecke gedrängt und mindestens einmal geschlagen, bis die beiden ihren Irrtum bemerkten. Ein anderes Mal wurde schon am Nachmittag um die Ecke in der Naunynstrasse ein Auto angezündet. An die hundert Zuschauer bewarfen die anrückenden Löschfahrzeuge mit einem Stein- und Flaschenhagel, so dass sich diese zurückziehen mussten. Man konnte die Spuren dieses Brandes heute noch im Asphalt sehen. Kein Anwohner hätte Löschfahrzeuge in einer derart engen und daher von einem Übergreifen des Feuers besonders gefährdeten Strasse behindert.  

Feuer wurden oft gelegt um die Situation zu eskalieren. Vor meinem Fenster zündeten Besucher an einem 1.Mai kurz vor der Einführung des Myfests nachmittags mitten auf der Straße ein großes Feuer an, das recht schnell von mehreren Polizeigruppen gesichert oder genauer gesagt, umstellt wurde. Die Beamten standen Schulter an Schulter kreisförmig mit dem Rücken zum etwa drei bis vier Meter durchmessenden Feuer. Um sie herum eine johlende Menschenmenge, aus der immer wieder Brennmaterial über die Polizisten geworfen wurde. Mit einem Feuerlöscher wäre das Problem in einer Minute lösbar gewesen - aber die Polizei hatte keinen dabei und wirkte völlig hilflos. Diese Situation löste sich erst nach mehr als einer halben Stunde, als mein Nachbar Mohamed wunderbar mutig mit zwei vollen Wassereimern aus dem Friseur-Laden durch die Menge drängte und das meiste löschte. Ein Jahr später rief ich Ende April beim örtlich Polizei-Revier an und bat mit dem Hinweis auf diese Situation, bei der die Feuerwehr auf Grund der Menschenansammlung praktisch kaum einsetzbar war, darum, die vor Ort eingesetzten Beamten mit tragbaren Feuerlöschern auszurüsten. Die recht barsche Antwort war, dass jeder der eingesetzten Züge immer schon einen solchen mit sich führe.

Unser Kiez war zum Action-Spielplatz einer besonderen Form des Räuber- und Gendarm-Spiels geworden, das von den meisten Anwohnern mindestens als lästig und sehr oft auch als gefährlich wahrgenommen wurde. Einem Freund von mir flog in der Nähe einer versuchten Plünderung eines Hoffmann-Getränkeladens ein Pflasterstein so nah am Kopf vorbei, dass er den Luftzug spüren konnte. Die drei Lieferwagen einer Schreinerei in der Oranienstraße wurden in einer Nebenstraße angezündet, der Laden ging Pleite. Schaufenster wurden wie vor einem Hurrikan mit Brettern gesichert oder oftmals eingeworfen.

Welche der vielen beteiligten linken Gruppierungen gerade welchen antiimperialistischen, antifaschistischen, antisexistischen, anti-usw. Kampf führte, war für Anwohner nur noch an der Überschrift der jeweiligen Aufrufe (Motto der Revolutionären 1.Mai Demo nach der Wiedervereinigung 1990: "Lieber raus auf die Straße als heim ins Reich!") erkennbar. Den meisten Besuchern war das vermutlich auch egal. Vielen ging es sichtlich um den Adrenalinkick der Ausnahmesituation.

Die Veranstalter müssen sich die Frage gefallen lassen, mit welchem Recht sie Jahrzehnte lang allen Bewohnern eines ohnehin schon in vieler Hinsicht prekären Stadtteils dieses Ereignis zumuten. Ginge es tatsächlich um eine relevante gesellschaftliche Veränderung, wäre ein Umzug der Demonstration zum Kudamm, nach Wannsee oder Köpenik sicher ein Beitrag zu mehr Glaubwürdigkeit. In der traditionellen Ausrichtung bot jede sog. Revolutionäre- 1.Mai-Demo neben der Gefahr völlig unkontrollierbarer Situationen, vorhersehbar auch einen Rahmen, in dem sich mit großer Regelmäßigkeit ein Teil der Besucher in einen Mob verwandelte.

 Tatsächliche Deeskalation brachte erst das vom Netzwerk Myfest, einem Bündnis aus Anwohnern, Bürgerinitiativen und Gewerbetreibenden, ab 2003 initiierte "Myfest“, das auf dem Gebiet der sog. "Revolutionären 1.Mai-Demo" ein Alternativ-Programm aus kulturellen und mehr oder weniger kulinarischen Angeboten organisierte. Diese von Anwohnern schnell als revolutionäres Grillfest bezeichnete Veranstaltung hatte aus deren Sicht unbestreitbar den Vorteil, dass sie tatsächlich effektiv Gewalt einschränkte.

Auf der Kreuzung der Adalbert- und der Waldemarstrasse spielte an diesem Abend eine sehr bekannte, wie bekanntermaßen linke Kreuzberger Punkband ein absolutes Klasse-Konzert. Mehrere hundert Zuschauern tanzten in bester Partystimmung vor der Bühne. Aus Richtung des Mauerstreifens kam etwa eine halbe Stunde nach Beginn die trotz Myfest ja nicht abgesagte "Revolutionäre 1.Mai Demo". An deren Spitze marschierte der sog. "Schwarze Block". Es war allen Beteiligten klar, dass die Organisation von Myfest dazu dienen sollte, gewalttätige Auseinandersetzungen in SO36 zu verhindern. Schon im Vorfeld hatten die Organisatoren der "Revolutionären 1.Mai-Demonstration" Myfest als Instrument zur Unterbindung der linken Demonstrationen kritisiert. In meiner Erinnerung hatten die meisten Marschierer im Schwarzen Block einen entsprechend missgelaunten Ausdruck im Gesicht, als sie auf das Konzert trafen. Statt nun den unübersehbaren Wunsch der Zuschauer nach Musik zu respektieren, drückten sich die Demonstranten demonstrativ übellaunig und rempelnd durch das Publikum. Die militante Linke verlor an diesem Abend viele Sympathisanten. Ein Jahr später hing an einem Balkon am Mariannen-Platz ein Transparent mit der Aufschrift: "Eine Revolution, auf der ich nicht tanzen darf, ist nicht meine Revolution!"

Die Zahl der Besucher überstieg in den Folgejahren bald das Fassungsvermögen der Strassen. In der Naunynstrasse habe ich 2011 mal fast 10 Minuten in einem Engpass neben einer quer über die Strasse gebaute Bühne festgesteckt, weil in keiner Richtung mehr Bewegung möglich war. Aus meinem Fenster konnte man vor lauter Menschen zu bestimmten Zeiten - außer an den vielen ungesicherten Grills - kaum noch etwas vom Asphalt der Straße sehen. Selbst Atheisten müssen an diesen Tagen von einem über SO36 kreisenden Schwarm von Schutzengeln überzeugt gewesen sein, denn immerhin gab es bei den Veranstaltungen wie durch ein Wunder nie Schwerstverletzte oder Tote.

Na gut: Echte Bewegungsfreiheit brachte Myfest den Anwohnern nicht wirklich. Und auch sonst: Fast direkt vor meinem Fenster war ein paar Jahre lang die Bühne für Hard- und Grindcore aufgebaut. Grindcore ist hart, schnell, ultraverzerrt und klingt, als hätte der Sänger beim Singen ein Toastbrot quer im Hals. Zunächst vielleicht ein musikalisch spannendes Projekt, aber bei fünf bis acht Bands in Folge wird das ziemlich schnell ätzend, erst recht, wenn die Lautstärke und der Bass die Fenster in ein zwölfstündiges Dauerbrummen versetzen.

Zum Ende von Myfest und im Lauf der Nacht bemühen sich fast immer - und meistens vergeblich - einige ewiggestrige Wutgestörte ("Deutschland verrecke!"), die sich um ihren Kick betrogen fühlten, oft mit Hilfe von Knallkörpern wenigstens noch ein paar nächtlichen Scharmützel zu entfachen. Abbautrupps und Reinigungsfahrzeuge gelang es bis morgens, lautstark den Status Quo der Straßen wiederherzustellen. Nur leider nicht in unserem Eingang, der wie bei jedem 1. Mai, noch mehr als sonst, für viele als Toilette dient.

Ach ja - apropos Vogelzwitschern: Natürlich waren am 1.Mai 2020 alle Veranstaltungen wegen der Covid-19-Pandemie abgesagt. Trotzdem versammelten sich ab dem frühen Nachmittag mehrere tausend Menschen - und 5000 Polizisten. Und deshalb doch wieder Straßensperren, Hubschrauber, Gebrüll, Pyrotechnik, leichte Verletzungen und 50 Festnahmen....

Kurzbiografie Friedrich

Friedrich wuchs in den sechziger Jahren im Rheinland auf, zog 1984 nach Berlin und lebt seit dem in Kreuzberg.