Ich suchte im Netz nach Fotos der Adalbertstraße, in der ich wohne, als ich auf dieses Bild stieß.

Zunächst hätte ich es beinahe übersehen, da es auf den ersten Blick eher wenig spektakulär wirkt. Dazu noch in Schwarz-Weiss.

Wegen "weiss" blieb ich vieleicht an diesem Bild hängen: hier war die Mauer nämlich tatsächlich weiss. Ein Stück Berliner Mauer ohne Grafittis. Wann und wo gab es das?

Was war das für ein Bild?

Ich kenne sowohl das Straßenschild als auch die abgebildeten Häuser und die Kirche, aus dieser Perspektive jedoch nur ohne Mauer.

Ein Foto der sichtlich intakten Mauer von Osten aus?

Ich wußte, daß Fotografieren auf der Ostseite für die gesamte Berliner Mauer und andere Grenzanlagen der DDR verboten war. Dieses Verbot wurde streng von den Grenztruppen, der Volkspolizei und der Stasi umgesetzt (aus: 3) und mit mindestens zwei Jahren Gefängnis bestraft. (aus: 2)

Neugierig geworden stieß ich bald auf die Geschichte von Gerd Rücker, der die Mauer zwischen 1978 und 1986 heimlich von Osten aus fotografierte.

Geboren 1942 erlebte Rücker den Aufstand vom 17. Juni 1953, bei dem es in der DDR zu einer Welle von Streiks und Demonstrationen kam, die von der Sowjetarmee gewaltsam niedergeschlagen wurden, als einschneidendes Erlebnis.

 „Ich war 11 Jahre alt und hab davon nur das Anrollen der Panzer miterlebt, die über die Berliner Allee in Richtung Innenstadt fuhren. Ich selbst hatte ´n Problem: Wir wollten nämlich zu meiner Großmutter – von Weissensee zum Prenzlauer Berg. Straßenbahnen fuhren nicht. Es war Ausnahmezustand verhängt durch den sowjetischen Stadtkommandanten, und darin war verfügt, dass Personen nur bis zu Drei zusammenstehen dürfen. Und wir waren ja immerhin vier – meine Eltern, mein Bruder und ich. Und ich bin dann immer als Knirps ein Stückchen vorneweg gegangen, damit wir nicht als Vierergruppe zu sehen waren. Es ist uns natürlich nüscht passiert, aber das hat sich bei mir so eingeprägt als Kind.“ (aus. 2)

Beim Bau der Mauer 1961 war er 19. Bis dahin war es für ihn normal gewesen, die ganze Stadt, ihre Seen und kulturellen Angebote mit dem Fahrrad und dem innerstädtischen Bahnsystem zu erkunden (" das war einfach beglückend! Es waren so wunderschöne Erlebnisse…“) und den Kontakt zu seinen über die Stadt verstreuten Verwandten zu haben.

Bei diesen Touren "verinnerlicht Gerd Rücker die Topografie Berlins"(Barbara Manterfeld-Wormit) so, daß er noch Jahrzehnte später so gut wie jede Straße und jede Straßenbahnlinie in Ost und West nennen, selbst wenn es diese schon lange nicht mehr gibt. (aus: 2)

Im Juli 1977 lag eine West-Berliner Tante schwer erkrannkt in einem Krankenhaus in Charlottenburg, für Rücker wegen der Mauer unerreichbar. „Ich wollte einfach innerlich nicht wahrhaben, dass ich eine nahe Verwandte, die lebensgefährlich erkrankt war, nicht mehr sehen durfte. Meine Mutter hingegen, die ja Rentnerin war und in dieser Zeit schon reisen durfte, konnte sie besuchen, und ich war ausgeklammert davon und war so betroffen, dass ich wenigstens ja, um mich abzureagieren – ersatzweise – mit dem Fahrrad die Grenze abfuhr.“(aus:2)

Er fuhr von der Oberbaumbrücke bis nach Rosental und stellte dabei zu seiner eigenen Überraschung fest, wie nah er - verbotener Weise - an die Grenze herankam und dabei nur selten anderen Menschen begegnete. Er unternahm weitere Fahrten dieser Art und hatte dabei irgendwann die Idee, beim nächsten Mal heimlich eine Kamera mit zu nehmen.

"Das bleibt einfach nicht nur in deinem Kopf, sondern Du musst das fotografisch festhalten. Das sind Dinge, die kannst Du niemandem beschreiben. Das ist so an die Nieren gehend, dass Du unmöglich dieses Gefühl vermitteln kannst. Da habe ich auf einem Spaziergang in Babelsberg die Glienicker Brücke gesehen mit beiden Seiten, und da dachte ich: Das ist so umwerfend schlimm, dass musst Du in irgendeiner Weise dokumentieren. Und das war eigentlich das erste Bild, dem dann viele weitere in der innerstädtischen Grenze folgen sollten.“ (aus: 3)

 Rücker ergänzt dazu später: „In dieser Dokumentation liegt kein vordergründig politischer Anspruch. .... In ihr kann nur meine ohnmächtige Trauer darüber deutlich werden, dass es diese Grenze gibt.“ (aus: 4)

Sein Beschluß, in einem klassischen Sinn Zeugnis abzulegen, resultierte dabei nicht nicht nur aus seiner persönlichen Betroffenheit, sondern auch aus seinem christlichen Glauben. (aus: 2; 4)

Auf ein mögliches drittes Motiv verweist Frank Junghänel. Rücker habe über die Jahre der Teilung seine Vorstellung von Berlin als Ganzem bewahrt. Er laß die jeweils aktuellen Stadtpläne, die ihm seine Mutter aus West-Berlin mitbringt. Auf den Plänen im Osten war die westliche Stadthälfte nach 1961 nur noch als weiße Fläche ausgewiesen. Die unterbrochenen Straßen, Wege und Bahnstrecken nahm er "beinahe wie Amputationen am eigenen Körper wahr, so sehr identifiziert er sich mit seiner Stadt. Besonders beschäftigt ihn das zerrissene Telefonnetz." Rücker arbeitete nach seinem Studium an der Hochschule für Verkehrswesen in Dresden während seines gesamten Berufslebens als Fernmelde-Ingenieur bei der Deutschen Post und nach der Wiedervereinigung dann bei der Telekom. (aus: 4)

Da das vermeintliche Ausspionieren von Grenzanlagen, wie bereits erwähnt, unter Strafe stand, mußte er die Aufnahmen gut vorbereiten. „Das war die schlimmste Geschichte überhaupt: Das Auskunden, das vorher in Augenschein nehmen. Ich bin ohne Kamera losgegangen, habe die Stellen observiert, die mir als geeignet erschienen und wenn es geht, erhöhte Standorte ausgesucht: Treppenhäuser, andere bauliche Anlagen. Und nach dem Observieren bin ich dann mit der Kamera losgezogen, habe eine kleine Amateurkamera gehabt, ganz normale Durchguckkamera, das heißt: Man musste schon die Arme hochnehmen, um das Bild zu machen.“ (aus: 2)

Dabei galt als "oberstes Gebot: Keiner darf dich sehen dabei – weder von vorne von den `Grenzorganen´, wie das ja hieß, noch aus der Position des Hinterlandes. Keiner darf mitkriegen, dass du hier fotografierst, denn die Fotoaufnahmen alleine hätten mit zwei Jahren Gefängnis belegt werden können: Staatsgefährdung und Geheimnisverrat und Vorbereitung zur Republikflucht und dergleichen mehr…“ (aus: 2)

Naheliegenderweise konnte Gerd Rückers die Mauerfotos, die er mit seiner Kamera (Modell Altix-n) machte, auch nicht von anderen entwickeln lassen und richtete daher ein eigenes Fotolabor in seinem Badezimmer ein. (aus: 4) Die Abzüge versteckte er zur Sicherheit in seinen Polstermöbeln, die Negative bei seiner Mutter. (aus: 1)

Ebenso war es "´ne ganz klare Sache, daß davon keiner wissen durfte. Und es hat bis ‘89 auch dichtgehalten. Es gab noch zwei Freunde, die davon wussten, ohne dass sie aber die Bilder in dieser Dokumentation gesehen hätten. Ich hab´die Fotos gemacht mit dem Wissen meiner Frau. Manchmal war ‘se auch dabei oder zumindest vorher beim Auskunden der Örtlichkeiten. Meine Frau wusste also um die Gefährdung. Sie wusste auch um die Strafbarkeit. Sie kannte auch das Maß, was angedroht war. Und trotzdem war meine Frau einverstanden. Sie wusste: Ich muss das tun. Ich muss diese Bilder machen, um vor mir selbst sagen zu können: Das war es. So ist es gewesen!“ (aus: 2)

Nach dem Fall der Mauer übergab er eine Auswahl von 76 seiner Fotos als Schenkung der Stiftung Berliner Mauer, die 2015 diese Aufnahmen als Buch unter dem Titel "Fotografieren verboten." veröffentlichte. Er selbst beschloss 1989: "Für mich beginnt jetzt wieder Normalzustand. .... Ich fotografiere jetzt nicht mehr." In einer Nachbemerkung des Buches bittet der Fotograf um Nachsicht bei "technischer Unvollkommenheit und vermeintlicher Belanglosigkeit der Aufnahmen."(aus: 2)

Von den vielen Fotos, die Rücker bei seinen Touren machte, sind, schon wegen der gefährlichen Aufnahmebedingungen, nicht alle etwas geworden. Aber die brauchbaren Aufnahmen sind, so Barbara Manterfeld-Wormit in einem Beitrag für Deutschlandfunk Kultur:"kostbare Zeitdokumente. Sie zeigen Orte, die heute nicht mehr existieren. Sie zeugen von der Unmenschlichkeit eines politischen Regimes, die heute manche nicht wahrhaben wollen." und sind gleichzeitig "Ausdruck der Hoffnung von einem, der sich damit nicht abfand." Gerd Rücker hat den "antifaschistischen Schutzwal" wie ihn die DDR-Propaganda nannte, so die Autorin, überwunden, "nicht physisch, sondern indem er fotografierte." (aus: 2)

Ähnlich interpretiert Frank Junghänel in einem Beitrag der Berliner Zeitung Rückers Verstoß gegen das staatliche Bilderverbot als "seine ganz private Weise, mit der Teilung der Stadt umzugehen, von der er wie viele andere persönlich betroffen war, die er jedoch wie wohl wenige andere auch höchst persönlich nahm."(aus: 4)

Wie bedeutsam die mutige Arbeit von Gerd Rückers darüber hinaus tatsächlich ist und bleiben wird, läßt sich schon an einem Vergleich seines Fotos mit einer aktuellen Ablichtung des gleichen Motivs erkennen.

Gerd Rückers Form von Widerstand war eine sehr private, aber man kann annehmen, dass Diktaturen sehr viel schneller gewissermaßen implodieren würden, wenn es mehr Menschen von seinem Format geben würde.

 


Belegstellen:

1: Lydia Dollmann: "Gerd Rücker - Verbotene Fotos von der Ostseite der Mauer", aus: www.berliner-mauer-gedenkstaette.de/de/gerd-ruecker-1419.html

=> hier auch O-Ton-Beiträge

s.a.: Dollmann, Lydia, Manfred Wichmann(Hg): "Fotografieren verboten! Die Berliner Mauer von Osten aus gesehen -mit Aufnahmen und Erinnerungen von Gerd Rücker", Berlin 2015, Ch. LInks-Verlag

2: "Gerd Rückers geheime Mauerfotos - Für die Ewigkeit festgehalten", von : Barbara Manterfeld-Wormit, Berlin, 17.6.2018, aus: www.deutschlandfunkkultur.de/gerd-rueckers-geheime-mauerfotos-fuer-die-ewigkeit.1124.de.html?dram:article_id=420592

3: www.stiftung-berliner-mauer.de/de/veroeffentlichungen-der-stiftung-berliner-mauer-104,230,2.html

4 "Gerd Rückers Fotos der Ostseite der Mauer : Hobbyfotograf veröffentlicht seltenes Fotomaterial der Berliner Mauer", von: Frank Junghänel, in: Berliner Zeitung, 16.10.2015, aus: www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/gerd-rueckers-fotos-der-ostseite-der-mauer-hobbyfotograf-veroeffentlicht-seltenes-fotomaterial-der-berliner-mauer-li.32096

Kurzbiografie Friedrich

Friedrich wuchs in den sechziger Jahren im Rheinland auf, zog 1984 nach Berlin und lebt seit dem in Kreuzberg.