Irgendwann Anfang der Neunziger.

"Also hinter der der Warschauer Brücke links bis zum Getränkemarkt, dann am Zaun entlang bis aufs Bahngelände und von da an den Lichtern folgen. Dann seht ihr das schon. So`n altes Bahngebäude "

Hatte wir jedenfalls so gehört. Der Tip kam von Nachbar B., der heute Nacht dort auch spielen würde.

Unberührt von jeder Notenkenntnis, aber mit einer besonderen Gabe für erlesene Klänge und hypnotische Beats. Bekannt für höchste Tanzbarkeit.

Also hin!

Noch bevor wir es sahen, konnten wir es hören.

Zuächst nur ein Art Puls in der Nacht.

Wie bei Pawlow´s Dog stieg bei uns die Erwartung.

Dann tatsächlich eine Lichterkette aus Grabkerzen, an deren Ende ein etwas ramponiertes Backsteingebäude stand.

Von aussen nur mit einem Effektscheinwerfen in wechselnde Farben getaucht - und zwischen den noch in Betrieb befindlichen Schienen.

Ein überschaubarer Eintritt, eher ein Obulus für die Betriebskosten.

Auch wenn dies nicht die Regel war: wer hier Veranstalter war, wollte nicht Geld sondern Party machen.

Aussedem stand eh fast jeder zweite auf der Gästeliste.

Innen wummernde Vierviertel. Laut.

Ein Flur, in dem nur die Theke wirlich erleuchtet war.

Drei geschlossene Türen und ein Raum, vielleicht etwas größer als eine Garage, ein kleiner roter Scheinwerfer und ein paar Kerzen, schon fast gefüllt mit Tanzenden.

Und Nachbar B.

Live.

Hinter einer kleinen Burg aus blinkenden Synthies und anderem elektronischen Gerät.

Und schon am Anfang seines Sets Klasse.

Garderobe Fehlanzeige.

Egal.

Jacken hinter die Bühne gelegt und ab.

Und wie.

In kürzester Zeit...

Als ich später an der Theke nach einer Toilette frage, ein ratloser Blick.

"Vielleicht die Tür da."

Merkwürdige Antwort.

Als ich sie öffne, stehe ich vor einer zwei Meter hohen Wand aus Schrott, im Dunkeln schwer zu erkennen.

Die anderen Türen kann man nicht einmal öffnen.

Also Plan B und raus.

Gerade als ich an der Rückwand des Gebäudes stehe, strahlen mich eine Reisverschlusslänge später drei Taschenlampen an und eine laute Stimme fragt mit amtschwerer Autorität: "Was machen Sie da?"

Nicht nur um mich herum ist auf einmal reichlich "Grün", der gesamte Weg steht voller Polizei.

Niemand räumt gerne Partys und niemand wird gerne geräumt.

Der Einsatz-Leiter ist aber hörbar in Deeskalation geschult und B. clever genug, sein Set schnell herunter zu fahren.

Die Polizei beschränkt sich auf die reine Räumung. Trotzdem verlassen einige Gäste mit etwas mulmigen Gefühl das Gelände durch ein Spalier von Polizisten.

Es soll sogar einige gegeben haben, die im Nachhinein die Idee, eine Party zwischen in Betrieb befindlichen Gleisen zu veranstalten, selbst für Berliner Verhältnisse als etwas zu riskant einstuften.

Aber wer hat an solch einem Ort schon mal versucht, eine Party zu feieren?

In dieser Zeit gab es überall in Berlin, aber besonders zwischen Janowitz- und Oberbaumbrücke viele einmalige Aktionen wie diese. Tausende nutzten die neuen, einmaligen Freiräume als Spielraum. So entstanden in alten Fabriken und abbruchreifen Häusern auch viele höchst wundersame Clubs, in denen Menschen aus aller Welt für eine, heute wie ein wilder Traum wirkende Zeit mit neuen Formen des Feierns experimentierten.

Heute haben Mercedes-Benz, Zalando und andere Investoren hier fast überall Firmensitze, Shopping-Malls oder exklusive Wohn- und Büroräume errichtet.

Austauschbar betongrau und mittlerweile - fast - spielfrei.

Kurzbiografie Friedrich

Friedrich wuchs in den sechziger Jahren im Rheinland auf, zog 1984 nach Berlin und lebt seit dem in Kreuzberg.