Kurz nachdem ich 1986 eingezogen war, hörte ich es zum ersten Mal. Von der Straße her kam eine für meine Ohren ziemlich wunderliche, sehr orientalisch klingende Mixtur aus Getröt und Getrommel. Für meine Ohren arg fremd, aber mit einem ganz eigenen, irgendwie hypnotisch anziehenden Klang. Als ich hinuntersah, kam aus dem Nachbarhaus gerade eine Hochzeitsgesellschaft in festlicher Kleidung, die von einem Duo aus Pauke und Schalmei und vielen, auch schon im Takt klatschenden Zuschauern empfangen wurde. Wer Dawul und Zurna, wie die beiden Instrumente auf Türkisch heißen, mal aus der Nähe gehört hat, weiß sofort, warum die Osmanen damit auch ihre Militärmusik gemacht haben. Mein Verstärker im Proberaum war nicht viel lauter. Viele Nachbarn sahen aus dem Fenster, winkten und wünschten dem Brautpaar sicherlich alles Gute, so wie ich auch. Was ich sah und hörte, wirkte auf mich schön und stolz. Ungefähr in solchen Bildern hatte ich mir das mit Multi-Kulti vorgestellt, als ich aus West-Deutschland kommend ganz bewusst nach Kreuzberg gezogen war. Die Braut stieg dann mit ihrer Begleitung in ein mit Blumen geschmücktes Auto und fuhr zum Festsaal, gefolgt von einem Autokorso der vielen, sichtlich gut gelaunten Gäste. Dabei wurde gelegentlich gehupt, auch - zum Gruß - von anderen Autofahrern, die gar nicht zur Hochzeit dazu gehörten.

Als die Mauer noch stand, gab es rund um das Kottbusser Tor so wenig Verkehr, dass man tatsächlich von einer ruhigen Gegend sprechen konnte. Entsprechend schnell verschwand der Lärm eines hupenden Autokorsos. Das hat sich spätestens seit der Öffnung der Oberbaumbücke geändert. Heute ist der Verkehr so dicht, dass eine Gruppe von mehreren Autos oft zwei bis drei Ampelphasen braucht, um über die Kreuzung zu kommen. Dazu änderte sich auch die Instrumentierung. Dawul und Zurna wurden fast vollständig von nun dauerhaftem Autohupen verdrängt. Auch die Autos wurden größer. Irgendwann fiel mir auf, dass immer häufiger Fahrzeuge beteiligt waren, die in meiner Kindheit nur als Karte in einem Auto-Quartett vorkamen. Einen weißer Rolls-Royce und ein cremegelber (ich vermute) Maserati tauchen unter anderen seit her bei vielen Hochzeiten immer wieder auf. Vermutlich gibt es irgendwo einen darauf spezialisierten Autoverleih. In Monaten mit traditionell vielen Hochzeiten wie dem Mai kann es geschehen, dass auch mehrere Hochzeitszüge an einem Tag durch die Straße fahren, deren Teilnehmer begeistert weiterhupen, während sie an der Ampel stehen. Dann dauern zwei Ampelphasen lange. Im dörflichen Kontext hatte der Brauch des Brautzugs u.a. ursprünglich auch die Funktion einer Einladung zum Fest, was aber in einer Stadt naturgemäß schlecht funktioniert. Natürlich feiern nicht alle Einwanderer ihre Hochzeit mit einem Hupkorso, aber in einer Gegend mit vielen Einwanderern kommt dieser eben auch häufig vor. Das gleiche gilt umso mehr für die folgende, seit ungefähr zehn Jahren zunehmend zu beobachtende Variante:                               

Dabei fahren die Beteiligten unter dauerhaften Hupen auf die Kreuzung Adalbert-/Oranienstraße und bilden wie in einer Wagenburg einen Kreis, in dessen Mitte der Wagen mit der Braut steht. In vielen Fällen werden dann die Motoren im Stand maximal hochgefahren, gleichzeitig drehen sich die Autoräder bis Wolken aus Abgasqualm und Reifen-Abrieb in der Luft über der Kreuzung hängen. Dieses giftige Gemisch ist auch 50 Meter entfernt, je nach Windrichtung in unseren Wohnungen deutlich wahrnehmbar. Gleichzeitig bilden sich immer in alle vier Richtungen lange Schlangen aus Autos und den hier verlaufenden zwei Buslinien, wobei deren Fahrer, ebenfalls mit laufendem Motor darauf warten, endlich die Kreuzung passieren zu können. Ein Teil der Wartenden hupt nun auch, entweder um, in selteneren Fällen, die Hochzeitsgesellschaft zu grüßen oder um die Kreuzung frei zu bekommen. Aber das kann dauern. Bei der längsten Veranstaltung dieser Art, die ich mitbekommen habe, war die Kreuzung fast eine halbe Stunde dicht. Die Polizei greift bei solchen Veranstaltungen nicht ein. 

Auch wenn die Braut normalerweise kaum sichtbar im Wagen verbleibt, platzieren die Beteiligten in seltenen Fällen die Braut in ihrem weißen Kleid und deutlich sichtbar mit einem roten Band gegürtet, durch das Schiebedach auf dem Dach des Wagens und umtanzen diesen, wobei die Männer, ähnlich wie bei im östlichen Mittelmeerraum bekannten Volkstänzen, zwischen sich gehaltene türkische Fahnen, schwenken. Es fällt auf, dass die sichtbar Handelnden nur Männer sind. Frauen bleiben bis auf seltene Ausnahmen fast immer im Wagen. Ebenso habe ich noch nie beobachtet, dass die Akteure die außerhalb des Kreises stehenden Menschen zum Mittanzen einladen.

Anders als früher sind heute auch viele Wagen bei Hochzeiten mit türkischen Flaggen geschmückt. Sah man früher türkische Flaggen allenfalls als Wimpel am Rückspiegel oder Aufkleber am Heck eines Wagens, taucht dieses Symbol, seit dem Amtsantritt des türkischen Präsidenten Erdogan 2003, spätestens aber seit der Fußballweltmeisterschaft 2006, bei der man ja auch in Deutschland „endlich wieder Flagge zeigen durfte“, vermehrt, bei gegebenen Anlässen auf(*1).

Das wie Folklore wirkende und scheinbar von großer Lebensfreude geprägte Kreuzungsspektakel wird von Touristen oft beklatscht oder fotografiert. Wie am Anfang schon erwähnt, ist emotionale Begeisterung angesichts einer Hochzeit zweifellos etwas Kulturübergreifendes und natürlich kann man diese extreme Form des ursprünglichen Brautzugs mit der Besetzung einer Kreuzung als bemerkenswerte kulturelle Neuschöpfung interpretieren, auch weil sie in nicht Corona-Zeiten an der Mehrzahl aller Wochenenden mittlerweile regelmäßig stattfinden.

Da meine Straße ohnehin schon stark lärmbelastet ist, kann ich aber andererseits sicher sagen, dass sich die meisten Anwohner, mit denen ich darüber gesprochen habe, im Lauf der Zeit von diesen Veranstaltungen wegen des Lärms, der Luftverschmutzung und der sehr demonstrativen Nationalisierung erheblich gestört fühlen.

Betrachtet man neben der Wahrnehmung von Anwohnern und Touristen auch die der eigentlichen Akteure, so zeigen diese zunächst einmal offensichtlich ihre Stärke, in dem sie für eine bestimmte Zeit öffentlichen Raum ausschließlich für sich beanspruchen und für alle anderen blockieren. Die Interessen ihrer Familie werden zumindest für diese Zeit demonstrativ über die der Allgemeinheit gestellt, wobei die Nutzung einer Kreuzung (*2) in besonderem Maß mit einer dann offenbar dazu gewünschten öffentlichen Aufmerksamkeit verbunden ist.

Wenn drei beteiligte Gruppen, Anwohner, Touristen und Beteiligte, die selbe, in mehrfacher Hinsicht zweifellos extreme Situation nicht nur völlig verschieden wahrnehmen, sondern auch ganz unterschiedlich davon betroffen sind, besteht, in meiner Einschätzung, in einer Gesellschaft mit multi-kulturellem Anspruch objektiv Gesprächsbedarf. Solange die in Kreuzberg und anderen vergleichbaren Stadtteilen lebenden Menschen verschiedener Kulturen aber meist eher neben als miteinander leben, findet eine dafür notwendige Kommunikation nicht im ausreichenden Maß zwischen ihnen statt, sondern wird den regierenden Parteien überlassen, die sie ängstlich ausklammern - oder sie wie die AfD oder die AKP gefährlich instrumentalisieren.                                                                                                              

Ein bisschen mehr Dawul und Zurna wäre da schon hilfreich.

 

 


(*1)  Der Hupkorso zum Ende der WM war bisher der einzige, bei dem Frauen und Männer, bzw. Flaggen, beider Herkunftsgruppen gemeinsam zu sehen waren. Andere, nicht hochzeits-bezogene Veranstaltungen dieses Typs, wie Hupen für den Erwerb eines Meistertitels des Istanbuler Fußballclubs Galatasaray, der Vorbereitung bzw. der Annahme des Verfassungsreferendum des türkischen Staatspräsidenten Erdogan 2017 (22.30- 3.00Uhr) oder aus anderen, nicht offen erkennbaren Gründen werden ausschließlich von jungen Männern veranstaltet.

(*2) - oder wie in Nordrhein-Westfalen geschehen, von Autobahnen, Aachner Zeitung, 16.4.21

Kurzbiografie Friedrich

Friedrich wuchs in den sechziger Jahren im Rheinland auf, zog 1984 nach Berlin und lebt seit dem in Kreuzberg.