Es war einmal ein kleiner EDEKA, eine Eckkneipe, eine Bäckerei und ein Tabak-Laden, alle weniger als 30 Meter entfernt von dem Haus, in dem ich wohne und in einer ehemals sehr lebenswerten Straße, die für die meisten Deutschen Mitte der 80er Jahre eher am Rand der Welt lag. Die Straße hat schon tagsüber ein hohes, meist stehendes Verkehrsaufkommen und ist sehr eng, baumlos und vierstöckig bebaut ist. Schall verschwindet hier nicht einfach.

Der Edeka-Mann hatte in seinem kleinen Laden ein fast komplettes Sortiment und stets großen Spaß daran, seine Kunden mit seinen türkischen Zahlenkenntnissen zu überraschen.

Die Bäckerei war wie fast alle West-Berliner Bäcker eine Zumutung für Einwanderer aus dem Rheinland, hatte aber zumindest echt leckere Splitterbrötchen. Im Kiosk, in dem ich mehr als 20 Jahre lang Zeitungen und Tabak kaufte, lief ein Einkauf selten ohne ein kurzes Gespräch über was auch immer. Der Laden war ebenso fast immer zu gequalmt von ein paar Nachbarn, die dort ihren Treffpunkt hatten - aber er schloss um 19.00 Uhr und ab da war Ruhe.

Das änderte sich. Ich weiß nicht mehr, wann genau sich die Eckkneipe zur Punk-Kneipe an der Ecke wandelte. Deren Gäste ließen uns bald an ihrem nächtlichen und frühmorgendlichen Treiben teilhaben. Hinweisen auf Ruhestörungen wurden nach Punk-Art mit Achselzucken oder dem Satz "Hey, Du kannst doch auch feiern, wann Du willst - warum sollen wir leise sein, wenn du pennen willst?" beantwortet.

Dann wurde irgendwann aus der der Bäckerei ein Spätkauf, ebenso übernahm vor etwas über zehn Jahren ein neuer Inhaber den Kiosk gegenüber. Mit dem bestand zumindest am Anfang auch ein sehr freundliches Verhältnis. Er erzählte von seinem Dorf, ich von meiner Kleinstadt.

Bald darauf begann er jedoch, ein paar Biertische und Bänke vor die Tür zu stellen und ließ den Laden selbst im Winter rund um die Uhr geöffnet. Der Kiosk wurde ein Späti - und lief.

Die Gäste hier sind stets sehr gemischt.

Wochentags holen ein paar Leute vor der Arbeit, so ab etwa 5.00 Uhr einen Kaffee, lassen dabei aber fast immer den Motor und das Autoradio laufen.

Tagsüber nutzen tatsächlich auch Anwohner dieses Angebot. Wie in einer traditionellen Eckkneipe erfüllt der Späti hier zugegebenermaßen auch eine offenbar notwendige soziale Funktion als Treffpunkt. Eine besondere Form bringt dabei der Sonntagmorgen, fast seit Beginn an stabil in Uhrzeit, Ablauf und Personal. Ab 6.00 Uhr treffen sich hier fünf bis acht Menschen, die in der Nähe wohnen zum Frühschoppen. Dazu bringt einer stets ein kleines Radio mit, das nicht nur die Gruppe selbst, sondern auch einen Teil der Straße mit den "besten Hits der 70er und 80er Jahre" beschallt. Das muss man mögen, so um kurz nach sechs Uhr sonntagmorgens.

Ab abends sind es Gäste der zahlreichen umliegenden Hostels, Touristen und zu etwa einem Drittel auch Besucher aus anderen Stadtteilen Berlins. Diese haben ihrem Reiseführer oder Verlautbarungen von Visit Berlin entnommen, das Spätis wie das vermeintliche "Wegbier" Bestandteil der Kreuzberger Kiezkultur seien. Wenn man aus den abends ausgestorbenen deutschen Kleinstädten kommt oder aus einem US-Staat stammt, in dem man mit 18 Jahren zwar ein Schnellfeuer-Gewehr, aber kein Bier kaufen kann, ist das bestimmt auch sehr attraktiv. Aber wer sonst braucht allen Ernstes "100 Sorten Bier" im Angebot?

Und damit beginnt das Problem - vielleicht aber auch schon im letzten Jahrtausend, als mit dem Song "Kreuzberger Nächte sind lang" eine staunende deutsche Öffentlichkeit darüber informiert wurde, dass zumindest in einem winzigen Eckchen der BRD die Bürgersteige nicht um spätestens 20.00 Uhr hochgeklappt wurden.

Fatalerweise setzte sich spätestens damit bei Besuchern und Rest-Berlinern eine Sicht des Bezirks durch, der sich für die Anwohner zu einem permanenten Alptraum entwickelt hat, weil man hier nachts nicht mehr schlafen kann. Klingt zunächst banal oder gar spießig.

Aber selbst ohne "Hundert Sorten Bier" hört sich eine Schulklasse, die spät abends von der U-Bahn zum Hostel am Haus vorbeiläuft, für Anwohner an wie eine endlose Schlange aus Lärmquellen, erst recht, wenn mindestens ein Drittel vor dem Späti gegenüber pausiert und noch was einkauft, wobei der Rest laut schnatternd vor dem Laden wartet.

Vor Corona fast jede Nacht.

Ätzender wird es, wenn eine Gruppe von bis zu 20 Besuchern oder Touristen sich dort über Stunden zum Feiern niederlässt. Alkohol macht Menschen laut. Erst recht mit den überall in der Gegend erhältlichen Zusatzstoffen. Noch mehr, wenn diese Menschen aus Kulturen aus Ländern stammen, in denen ohnehin deutlich lauter kommuniziert wird, wie etwa den USA oder Spanien.

Richtig laut wird es, wenn zwei Heteros balzen. Männerstimmen werden dann tiefer und dröhnender, Frauenstimmen höher und kieksiger, unter Alkoholeinfluss in beiden Fällen mit deutlichem Anstieg der Lautstärke. Noch schlimmer ist dagegen der umgekehrte Fall, wenn zwei alkoholisierte Menschen mitten in der Nacht eine heftige Beziehungskrise austragen und man als Zeuge gezwungener Massen tiefen Schmerz und Verzweiflung wahrnimmt. Es mag herzlos erscheinen, aber ich will diese Dinge einfach nicht hören, erst recht nicht um 3.00 Uhr morgens.

Orchestriert wird dies oft noch zusätzlich durch mitgebrachte oder von den Betreibern genutzte Musikanlagen. Ebenso zieht das zahlreiche Publikum viele junge Autofahrer an, die mit voll aufgedrehter HiFi-Anlage entweder betont langsam an den Feiernden vorbeirollen oder die Straße als Bühne für sog. Kavalierstarts oder Wettrennen nutzen. Es ist nicht selten, dass dabei Fensterscheiben oder Gläser auf dem Tisch vibrieren.

Während man im Bett liegt und versucht, endlich wieder einzuschlafen, ist man dann schon dankbar, wenn sich Feiernde nur zum Vorglühen vor dem Späti niederlassen und dann wenigstens irgendwann in umliegende Clubs weiterziehen - zumindest bis sie wieder zurück kommen - dann meistens "Druff wie hulle", wie meine Nachbarin sagt.

Vor Corona fast jede Nacht und garantiert jede Freitag- und jede Samstag-Nacht, das ganze tatsächlich nochmal hoch zwei, wenn alle zwei Jahre Fußball-Public Viewings stattfinden.

Außer bei Schneeregen mit Wind, meiner Lieblingswetterlage.

Dabei bleibt es jedoch meistens friedlich. Das ist unter den Drogenhändlern vor dem Späti gegenüber anders. Hier gibt es fast jede Nacht endlos lange und laute Palaver. Dabei geht es mindestens einmal in der Woche auch mal mit harten und teilweise sogar bewaffneten (Messer, Kette) Prügeleien zur Sache. Und weil deren Teilnehmer oft auch den Tag über gruppenweise vor dem Laden und damit vor unserer Haustür rumstehen, kommt es hier oft zu Begegnungen, die selbst von durchweg nicht AfD wählenden Anwohner:innen zuweilen auch als bedrohlich wahrgenommen werden. Deutlich aggressiver und gerade in Corona-Zeit noch heikler sind nicht seltene Begegnungen mit Menschen, die im Treppenhaus konsumieren oder dealen.

Aber immerhin - es ist ja nicht alles schlecht - schreitet bei gewalttätigen Auseinandersetzungen nun - und nur dann - tatsächlich auch einmal die Polizei ein. Diese glänzt in diesem Viertel sonst durch demonstrative Abwesenheit.

Mehrfach erklärten uns Ansprechpartner des zuständigen Reviers bei ausdrücklicher Nachfrage nach mehr sichtbarer Polizeipräsenz, diese sei personell nicht leistbar, weil „politisch nicht gewollt". Tatsächlich ist es Anwohnern auch mehrfach passiert, dass beim Anwählen der 110 wegen Lärmbelästigung oder im Treppenhaus schlafender Betrunkener einfach niemand kommt.

Das Ordnungsamt hat in Kreuzberg, anders als in anderen Berliner Bezirken von 20.00 - 8.00 und am Wochenende ganz geschlossen. Während dieser Zeit soll die Polizei deren Aufgabe übernehmen. Die für eines der touristisch stark frequentiertesten Viertel der BRD zuständige Wache hat aber nur fünf, bzw. seit Sommer 2020 sieben Streifenwagenbesatzungen. Mit einem derart geringen Personalbestand, ließe sich schon normale Polizeiarbeit kaum durchführen, geschweige denn noch zusätzliche Aufgaben wie Lärmschutz übernehmen.

Der von bestimmten Politikern immer wieder missbrauchte Begriff des sog. "Rechtsfreien Raums" hat in unserem Quartier eine zynische Umkehr erfahren. Hier sorgen das Land Berlin und der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg vereint selbst dafür, dass etwa das Landes- Immissionsschutz-Gesetz ohne demokratische Legitimation, wie etwa einem, dann auch entsprechend anfechtbaren, Beschluss des Senats, de facto außer Kraft gesetzt ist. Nur auf diesem eindeutig rechtwidrigen Weg kann Berlin den vielen, für die Wirtschaft angeblich so wichtigen Party-Touristen überhaupt ein "24/7-Partymeilen"-Angebot machen. Dies geschieht gegen den erklärten Willen eines Großteils der Anwohner, in jedem anderen Bezirk gab oder gäbe es sofort relevanten Widerstand.

Nach mehreren Jahren schlecht durchschlafener Nächte, hunderten Stunden in Sitzungen in Bürger-Initiativen, Treffen mit dem zuständigen Senatsabgeordneten, öffentlichen Gremien wie dem Büro des zuständigen Stadtrats, der Bezirksverordneten-Versammlung oder von diesen eingerichteter Mediationsrunden habe ich die Hoffnung auf Besserung aufgegeben.

Auf die wesentlich von ihm mitverursachte Situation mehrfach angesprochen antwortet der Späti-Betreiber von gegenüber stets mit "Eh, keine Problem, eh!", bevor er sich abwendet. Ich habe seinen Laden seit zehn Jahren nicht mehr betreten.

Ein in einer Mediationsrunde ausgehandelter Kompromiss wurde, da staatlich nicht sanktioniert, nicht eingehalten. Als die Betreiber diese Information erhielten, standen sie fast geschlossen auf und verließen die Veranstaltung vorzeitig. Das soziale Konzept von "Kompromiss" ist erst sozialisationsbedingt positiv besetzt und setzt sich entgegen dem ideologischen Ideal im interkulturellen Kontext nicht zwangsläufig durch.

Land und Bezirk stehen in den meisten Fällen auf Seiten der Betreiber, bzw. der Tourismus-Branche, vielleicht auch der Vermieter. Mitarbeiter sämtlicher beteiligter Behörden beschränken sich auf den Rat: "ja, dann ziehen sie doch da weg!". Das haben vier sehr geschätzte Nachbar:innen, auch getan, als es noch ging. Ich habe es lange nicht akzeptiert, im Recht zu sein, aber gehen zu müssen.

Falsche Entscheidung.

Das Problem betrifft in dieser extremen Form nur ein bis zwei Straßenzüge entlang einer Linie zwischen dem U-Bahnhof Kottbusser Tor und der Revaler Straße. Schon 150 Meter weiter bekommt man davon nur noch wenig mit. Bürgerinitiativen haben es hier schwer, eine notwendige kritische Masse zu erreichen. Viele Anwohner leben in prekären Mietverhältnissen mit Untermietverträgen oder Airbnb (auch in unserem Haus). Einwanderer zeigen sich in Gesprächen über Lärm genauso entnervt, halten sich von politischen Initiativen aber scheinbar grundsätzlich fern.

Alkohol macht Menschen jedoch nicht nur laut, sondern muss danach auch irgendwo entsorgt werden. Die Spätis gelten juristisch nicht als Gaststätten und müssen deshalb auch keine Toiletten anbieten. Öffentliche gibt es kaum. Und so kann dann im Extremfall folgendes passieren:

Ich komme mit meiner Freundin samstagnachts aus der Spätvorstellung, wir betreten den Hausflur und sehen vor uns vier junge Männer, die an Wand urinieren. Auf meine Bitte, das Haus sofort zu verlassen, wendeten sich zwei ab und schlossen ihre Hosen. Die beiden anderen drehten sich sehr demonstrativ entblößt mit einem "Ey Alta, was willzu?!!" zu uns um, bevor sie dann gingen.

Aber auch ohne direkte Begegnungen mit den Verursachern sorgen deren Hinterlassenschaften besonders im Sommer dafür, dass sich unser Hausflur mit jeder Bahnhofsunterführung messen kann. Aus naheliegenden Gründen nutze ich seit Jahren einen Gummi-Handschuh, wenn ich den Türgriff anfasse. 

Von den Verantwortlichen, dem Stadtrat, der Bürgermeisterin oder den Späti-Betreibern mit ihren Familien wohnt übrigens niemand in der Straße. Falls ich einem von denen noch einmal die Hand geben müsste, würde ich ihn anbehalten.

Kurzbiografie Friedrich

Friedrich wuchs in den sechziger Jahren im Rheinland auf, zog 1984 nach Berlin und lebt seit dem in Kreuzberg.