Bahnhöfe haben mit Unterwegssein zu tun, sind Start- und Zielpunkte; doch Bahnhöfe sind nie das eigentliche Ziel. Sie sind Zwischenstationen, oft Standort für Ärgernisse unserer schnelllebigen hypermobilen Zeit. Aber sie sind auch noch immer Tore zum Fernweh, Treffpunkte für Globetrotter - Orte für Zusammenkünfte.

Für mich, Friedrichshainer, war es der Ostbahnhof, der Startpunkt vieler Reisen war, die ich als Jugendlicher mit schwerem Rucksack in Richtung Ungarn, Rumänien und Bulgarien unternahm. Der Ostbahnhof war mein Tor, von dem die metallenen Straßen der DDR in die uns damals zugängliche Welt führten.

Der Ostbahnhof ist wohl der Bahnhof in Berlin, der die meisten Umbenennungen erlebte. Vom Frankfurter Bahnhof 1842, zum Schlesischen Bahnhof, 1950 Ostbahnhof, zwischenzeitlich war er Hauptbahnhof und ab 1998 wieder Ostbahnhof - nun wohl sein endgültiger Name.

Wo zu meiner Rucksackzeit noch unverständliche, blecherne Ansagen durch die Bahnhofshalle dröhnten, haben die Durchsagen heute beinahe eine beeindruckende Wohnzimmer-Akustik. Sogar an Bahnhöfen, wo ich es nie vermutet hätte, zeigt sich der rasante Wandel der Audiotechnik. Es ist nicht nur einmal passiert, dass ich beim Warten auf einen Zug in den 90er-Jahren eine jaulende Musik-Kassette aus dem Walkman fummelte, mit einem Bleistift das Band aufwickelte, in der Hoffnung, dass es nicht gerissen ist. Dabei fand ich es damals großartig, ein Gerät zu besitzen, mit dem man überall Musik hören konnte. Und auch in guter Qualität, ohne dass ein Moderator wie bei früheren Radio-Mitschnitten auf sperrigen Spulengeräten in die Titel quatschte. Welch ein Fortschritt! Heute ist der Walkman seit vielen Jahren vergessen, liegt längst im audiophilen Museum. Kassette und Schallplatte wurden von der CD abgelöst, eine praktische, knisterfreie kleine Scheibe, bei der man ohne zu spulen auf andere Titel springen konnte. 

Meine erste Begegnung mit der CD hatte ich nur unweit vom Ort des einstigen Bandsalates im damaligen Centrum-Warenhaus am Ostbahnhof. Es galt bei seiner Eröffnung 1979 als das modernste Kaufhaus der DDR. Wer etwas Besonderes kaufen wollte, fuhr zum Ostbahnhof. In den sechs Etagen des von einem schwedischen Architekturbüro gebauten Kaufhauses gab es ab und an auch das, was man "Bückware" nannte. Ich erinnere mich gut, wie ich zunehmend gestresst in den 80er-Jahren in der Abteilung Jugendmode nach Jeans anstand und in der langen Schlange erstmals ein Gespür von sozialismusfremdem Konkurrenzdruck empfand, dass womöglich ein anderer die letzte mir passende Größe vor meinen Augen wegschnappt.

Nach der Wende wurde das Centrum-Warenhaus ein Hertie-Kaufhaus und später Galeria-Kaufhof. In der oberen Etage eröffnete Anfang der 90er-Jahre eine Abteilung, die für mich das Paradies war: die Musikhandelskette WOM. All das, was ich in Jahren mühevoller Mitschnittarbeit auf Band brachte, lag nun gut sortiert von ABBA bis Neil Young vor mir. Die einst begehrten Schallplatten ließ ich links liegen (die großen Cover haben aber bis heute ihren nostalgischen Reiz), die Zeit stand auf CD. So riesig das Angebot so unerwartet leicht fiel mir die Wahl. Mein erster CD-Kauf war eine Gesamtausgabe mit allen Alben von Creedence Clearwater Revival. Eine Band, die Ende der 60er-Jahre mein Einstieg in die Rockmusik war - noch vor den Beatles. Dieser erste CD-Kauf ist auch deshalb unvergessen, weil an der Kasse der Mitarbeiter nur den Bruchteil des aufgeklebten Preises verlangte. Es war nicht nur mein Einstieg in die Welt der digitalen Musik, es war auch meine erste Begegnung mit den unergründlichen Geheimnissen und Verführungen der Marktwirtschaft. Ohne nachzufragen, wenn auch mit schlechtem Gewissen, zog ich mit einem unglaublichen Schnäppchen zurück zum Ostbahnhof.

Wegen ausbleibender Kunden, die unweit am Alexanderplatz und im Alexa attraktivere Alternativen fanden, zunehmend konnte mit dem Computer auch von zu Hause geschoppt werden, wurde das Kaufhaus 2017 geschlossen. War ich etwa durch besagten Kassenirrtum an diesem Niedergang beteiligt? Die italienischen Mosaik-Steine der Fassade waren mittlerweile verblasst. Verblasst ist auch der Siegeszug der CD. Musik ist heute datenträgerlos als digitale Datei überall dabei, die Auswahl ist noch umfangreicher als damals bei WOM und in Streaming Portalen nahezu unendlich. Die passenden Videos dazu liefert YouTube. Willkommen im Zeitalter von Star Trek. 

Um den Ostbahnhof wurde es ohne das Kaufhaus stiller. Nur der sonntägliche Antik-Markt sorgte zu pandemiefernen Zeiten noch für Menschenansammlungen. In angenehm entspannter Atmosphäre fanden Kunden und Händler hier Zeit zum Fachsimpeln und Entdecken. Trödel, hochwertige Antiquitäten, Bedrucktes - sogar Schallplatten erlebten eine Wiedergeburt.

Der Kiez am Ostbahnhof hat heute einen neuen Blickfang. Das markante Gebäude des Warenhauses wurde entkernt, stand mehrere Monate als Ruine, dann komplett umgebaut und neu gestaltet. Um mehr Licht ins Innere zu bringen, schnitt man große keilförmige Einschnitte in die Fassaden. Die dadurch verlorene Fläche wurde durch zwei weitere Geschosse ausgeglichen. Geplant ist, das Erdgeschoss mit Geschäften, Gastronomie und medizinischen Einrichtungen zu nutzen. Hauptmieter im neuen "Up!" wird der Online-Versandhändler Zalando, der sich auf Friedrichshain fokussiert hat: Firmenzentrale und Hauptquartier im neuen Zalando Campus nördlich der East Side Gallery, beeindruckender Stream-Tower an der Mercedes-Benz-Arena, das M_Eins an der Mühlenstraße und schließlich das Up! am Ostbahnhof. Eine unübersehbare Metamorphose von Friedrichshain zu Zalando-City.       

Die neue, großflächige Glasfassade des einstigen Kaufhauses bestimmt heute das Bild am Ostbahnhof. Es wird heller am Platz, besonders nachts und in dunklen Jahreszeiten. Auch zahlreiche neue Arbeitsplätze sind eine Chance, dass aus einem verstummten, tristen Umfeld eines geschichtsträchtigen Bahnhofes für Bewohner und Besucher wieder ein lebens- und sehenswerter Ort entsteht.

Kurzbiografie Peter Knie

Aufgewachsen in Sachsen Anhalt und wohne seit 1980 in Berlin Friedrichshain. Tätigkeiten als Lehrmeister bei NARVA / Priamos und im Bereich Tourismus. Aufgrund von Interessen an Reisen, Fotografie, Geschichte und Schreiben seit 2019 im Projekt Kreuzberg.Mauer.Friedrichshain - 30 Jahre Wandel entlang der Spree. Lebensmotto: "Das wirklich Wesentliche im Leben muss in einen Rucksack oder sieben Fahrradtaschen passen"