Der Holzschuppen ist notdürftig mit Brettern verschlagen und mit Infozetteln versehen. Ein Pfeil auf einer kleinen Kreidetafel weist in Richtung RUDE BAR. Doch das Besondere an diesem Schuppen ist etwas anderes - aus einer der hölzernen Wände ragt der Hinterleib eines Rindes. Weißes Fell, schwarz gefleckt. Starr, wie eingewachsen verharrt der Tierkörper in der Bretterwand. Der Rinderschwanz ohne Leben, die Hinterbeine auf den Boden gestemmt. Das Tier ist ausgestopft und ich überlege, was will das Kunstwerk mir sagen. Ist es festgeklemmt und kommt nicht mehr zurück, oder es ist fasziniert vom Innenraum des kleinen Holzschuppens? Der steht wenige Meter hinter einem Drahtzaun. Über dem offenen Zugang zeigt ein Schild: Hier beginnt das Teepee Land. Tipi Zelte, gestapelte Plastikstühle und alte, nasse Bretter prägen das Umfeld. Teepee Land ist ein Kultur- und Nachbarschaftsprojekt an der Spree. Ich befinde mich tatsächlich am südlichen Spreeufer in Berlin. Indianerzelte am Rand von Kreuzberg. Abseits üblicher gesellschaftlicher Zwänge leben hier Menschen unterschiedlichen Alters und Nationen in Einklang mit der Natur direkt an der Spree. Ein gutes Dutzend ständiger Bewohner soll es geben. "Flieger", der die Kommune im Juni 2012 gründete, erklärt den Anspruch: "Eine Kommune ganz ohne Randale, harten Alkohol und Drogen. Dafür Vernetzung mit der Nachbarschaft, Kulturveranstaltungen und offen für alle Besucher". *

Ungeplant bin ich nun im Herbst 2019 auf meiner Wanderung entlang der Spree einer dieser spontanen Besucher. Obwohl Stille im Lager herrscht, fühle ich mich Willkommen und nicht als ungebetener Eindringling. Versteckt zwischen Bäumen und Büschen gilt das Teepee Land als das letzte besetzte Grundstück am Spreeufer. Bei meinen ersten Touren an der Spree, 2002 und 2010, begegnete mir hier nur ein Stück unberührte, unzugängliche Natur.

Ich gehe zurück zum Eingang. Auf einem großen Holzschild steht: „LOVE LOVES FREEDOM“ – „Liebe liebt Freiheit“. Und der schwarzgefleckte weiße Rinderleib steckt noch immer fest in der Bretterwand. Ich glaube, er ist fasziniert vom Innenraum des kleinen Holzschuppens und will bleiben.

* Auszug aus Berliner Zeitung August 2014 / Teepee Land Homepage

Auf einem unbefestigten Uferweg der Spree wandere ich in Richtung Schillingbrücke. Am gegenüberliegenden Ufer strahlen die roten Backsteinbögen des unter Denkmalschutz stehenden ehemaligen Abwasserpumpwerks nun seit über 100 Jahren zeitlos in der Sonne. Dahinter ragt ein Schornstein hoch in den wolkenlosen Himmel. Eingerahmt in Neubaublöcke und der angesetzten Glasfassade eines heutigen Theaterstudios, wirkt der rote, schlanke Backsteinturm wie ein störrisches Überbleibsel der Vergangenheit am Spreeufer.

Ich stehe auf der Schillingbrücke. Unter mir kräuselt sich die Spree nach Osten. Die prägenden Ufergebäude werfen mich in die Gegenwart zurück und drängen die wenigen verbliebenen Backsteingebäude ins Abseits. Der architektonische Wandel am Spreeufer wird hier deutlich sichtbar. Vor dem Backsteinbau des ehemaligen Zentralmagazins der städtischen Gaswerke prägt nun die große, schräge Glasfassade vom Energieforum Berlin das Flussufer. Am entfernten Wasserhorizont Altvertrautes - die beiden Türme der Oberbaumbrücke. Dieser gesamte Spreeabschnitt war einst Grenzgebiet und trennte Friedrichshain und Kreuzberg. Jahrzehntelange Randlagen in Ost und West. Deshalb gehört dieser Flussabschnitt mit zu den Gebieten, die in den vergangenen 30 Jahren die deutlichsten Veränderungen erfuhren. Wo einst die unzugängliche, verstummte Abgeschiedenheit der Grenze das Spreeufer prägte, blicke ich nun auf alte und neue Hausfassaden und weitläufige Parkanlagen.

Weite Sichten am East-Side-Park

An der Eastside Gallery ist zur Spree hin ein breiter Uferstreifen entstanden, der East-Side-Park am Friedrichshainer Spreeufer. Wo einst der Todesstreifen der Berliner Mauer war, ist heute zwischen der Open-Air-Galerie und der Spree ein weitläufiges Parkgelände mit Uferpromenade. Der East-Side-Park ist bewusst so großflächig angelegt, dass er deutlich den Gegensatz zwischen der Enge und Beklommenheit des alten Grenzverlaufs und neuer offener Weitläufigkeit verdeutlicht. Das macht diesen Uferstreifen in naher Sichtweite zu Mauersegmenten für mich so besonders. Noch versperrt ein Zaun an der gläsernen Fassade des Energieforums den weiterführenden Uferweg in Richtung Schillingbrücke. Durchgängige Uferwege an beiden Seiten der Spree wären ein wichtiger Beitrag für die touristische Erschließung und ein verbindendes Glied des gemeinsamen Stadtbezirks Friedrichshain-Kreuzberg.

Vom East-Side-Park wandere ich zur Oberbaumbrücke. Sie war 1989 mein Eintrittstor nach West Berlin. Unmittelbar an der Brücke lag in Friedrichshain der NARVA-Jugendclub. Aus rückblickender Sicht - in gewagter Nähe zur Berliner Mauer. Doch damals war die nahe Grenze an der Oberbaumbrücke Alltag und der Jugendclub existierte ohne Zwischenfälle mit den Grenzposten auf der Spreebrücke. Alternativlose friedliche Koexistenz oder eine professionell gestaltete unsichtbare Begutachtung der Veranstaltungen. Gegenwärtig belegen "Mundis Cocktailbar" und "Scheers Schnitzel" gut sichtbar beworben die Räumlichkeiten.

Heute stehe ich bei meiner Spreeufertour wieder einmal auf dieser geschichtsträchtigen Oberbaumbrücke. Sie ist mittlerweile das sichtbarste Verbindungsglied zwischen Friedrichshain und Kreuzberg und Wappen des gemeinsamen Stadtbezirks.

Auf der Westseite wellt sich die Spree in Richtung historisches Zentrum Berlins und ich suche die Uferwege, auf denen ich gewandert bin. Was dominiert, ist der neue Wohnturm „Living Levels“ an der Eastside Gallery, der das Spreeufer auf der Friedrichshainer Seite prägt. Nach Osten geht der Blick durch die roten Backsteinbögen der Oberbaumbrücke auf die Spree in Richtung Treptow. Am Horizont erheben sich die Molecule Man und der Allianz Tower. Dieses Friedrichshainer Spreeufer hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Neben den alten Speichergebäuden erheben sich über den Uferweg zahlreiche Neubauten, teilweise mit futuristischen Fassaden. An den einstigen Osthafen erinnern nur noch Relikte von Gleisen, ein alter Kran und die beiden Segler "Agnes" und "Kurier". Zumindest einen durchgehenden Spreeuferweg bis zur Elsenbrücke gibt es.

Meine Hoffnung bleibt, dass es in Friedrichshain-Kreuzberg in Zukunft an der Spree einen Uferweg geben wird, der nicht unterbrochen ist, auf dem Einheimische und Touristen den Stadtbezirk von der Wasserseite erkunden können und die Spree nicht mehr als trennendes Element empfinden - die Spree als ein Fluss der Verbindung beider Stadtteile mit einer Ufergestaltung wahrnehmen, die Geschichte widerspiegelt, naturnah ist und zum Wiederkommen einlädt.

Kurzbiografie Peter Knie

Aufgewachsen in Sachsen Anhalt und wohne seit 1980 in Berlin Friedrichshain. Tätigkeiten als Lehrmeister bei NARVA / Priamos und im Bereich Tourismus. Aufgrund von Interessen an Reisen, Fotografie, Geschichte und Schreiben seit 2019 im Projekt Kreuzberg.Mauer.Friedrichshain - 30 Jahre Wandel entlang der Spree. Lebensmotto: "Das wirklich Wesentliche im Leben muss in einen Rucksack oder sieben Fahrradtaschen passen"