Man muss schon näher herantreten, um es zu sehen. Die beiden großen hölzernen Bogentüren sind kunstvoll, filigran bis ins Detail schmiedeeisern beschlagen. So aufwendig gestaltete Türen gehören zu besonderen Gebäuden. Über dem Eingangsportal, ein in einer Schmuckstein-Rosette gemaltes Lamm, das seinen Kopf nach hinten wendet. Dreht es sich um nach dem Mann, der sich gerade der Kirche nähert? Hier kommen ständig Passanten vorbei, für das Lamm ist das Alltag. Doch dieser Mann gehört nicht ins alltägliche Bild. Lange, schüttere weiße Haare, auch die Bartlänge übersteigt die Mode der Gegenwart. Der Mann scheint eine Symbiose von Pater Anselm und Karl Marx zu sein. Langsam geht er in Richtung Informationssteele zur friedlichen Revolution von 1989 an der Samariterkirche. Das Lamm über dem Kirchenportal hat das Interesse an dem Bärtigen verloren und blickt weiter nach hinten. Vielleicht hat es erkannt, dass der Mann doch nicht aus der frühen Zeit des Lammes stammt. Pater Karl, wie ich ihn nenne, fotografiert nämlich mit einem zeitgerechten Tablett-PC. Er lichtet nicht einfach rasch ab, er nimmt sich Zeit für die Motive: Für das sich abwendende Lamm, für die schmiedeeisern verzierten Türen und schließlich widmet er sich intensiv der Infosäule.

Er bemerkt, dass ich ihn, wenn auch unauffällig, beobachte. "Das ist schon ein besonderer Ort hier", sagt er zu mir. "Schade, dass die Gräber weg sind. Da, wo jetzt der Spielplatz der Samariterkirche ist, war nach dem Krieg bis Ende der 70er ein Notfriedhof für Soldaten und Zivilisten. Ich fotografiere nämlich Friedhöfe und Kirchen." Er lässt mich auf den Bildschirm seines Tabletts sehen und öffnet einen Bilderordner. "Ich war eben auf dem Georgen-Parochialfriedhof, nicht weit vom Volkspark Friedrichshain - ein grausiger Ort kann ich nur sagen. Das ist wie eine Zeitreise ins Mittelalter. Insidertipp für Fotografen! Guck mal, ist das nicht eine Landschaft wie in einem alten Edgar Wallace-Film? Überwucherte Grabanlagen, marmorne Wandgräber, sogar antike Tempel." Jetzt komme auch ich ins Gespräch. "Der Parochialfriedhof war tatsächlich mal Filmkulisse. ´Das Leben der Anderen´ wurde dort gedreht. Aber es stimmt, da hätten wirklich die düstersten Edgar Wallace-Filme spielen können." Wir haben ein gemeinsames Thema gefunden und schwelgten im nebeligen Schwarz-Weiß-Wallace-Grusel vergangener Zeiten.

Schließlich widmet sich Pater Karl wieder der Infosäule zur Friedlichen Revolution.

In den 80er-Jahren zählte der Friedenskreis der Samaritergemeinde zu den frühen Oppositionsgruppen der DDR. Seit 1979 fanden hier die gesellschaftskritischen Bluesmessen statt. Der damalige Pfarrer, Rainer Eppelmann, übte offen Kritik an den politischen Verhältnissen der DDR. Eine hochexplosive Situation für die Staatsmacht diese Mischung von Musik und Gesellschaftskritik. Nach der Wende wurde Rainer Eppelmann, ein Pfarrer, Minister für Abrüstung und Verteidigung.

Pater Karl sitzt mittlerweile auf der steinernen Treppe des Kirchenportals und recherchiert im Internet. "Also", murmelt er. "Märkische Backsteingotik, Samariterkirche in Opposition zu NS-Zeiten und zu DDR-Zeiten." Dann lauter zu mir gewandt: "Das ist ja ein Ding! Da hat mir doch Google Werbung für Edgar Wallace-Filme hier reingeschoben! Hexer, Zinker und Elisabeth Flickenschild im Gasthaus an der Themse!" Der bärtige Mann steht wieder und ist nicht gerade gut gelaunt. "Ich hab doch nach Samariterkirche gegoogelt! Wo ist der verdammte Schaltbutton, um das Mikrofon zu deaktivieren? Das ist ja ein Ding! Unglaublich!" Ich kann ihm auch nicht helfen, den richtigen Schalter in einem der Untermenüs zu finden, verabschiede mich mit dem Versprechen, den Parochialfriedhof unbedingt mal zu besuchen.

Ich wechsele die Straßenseite. Der schlanke, hohe Turm der Samariterkirche ragt zeitlos wie ein mahnender Zeigefinger in den makellos blauen, friedlichen Himmel. Seit nun beinahe 40 Jahren gehört dieser rote Backsteinbau zu meinem Straßenbild. Er prägt zwar das Kiezumfeld, verschwimmt aber in der alltäglichen Wahrnehmung ins Beiläufige.

Am Gehweg steht eine Telefonzelle. Relikt aus analoger Vorzeit. Auch sie habe ich in den letzten Jahren nicht mehr bewusst wahrgenommen. Ich nehme den Hörer ab, ein Freizeichen. "Das ist ja ein Ding", murmele ICH jetzt. Sie funktioniert noch immer.

Auf dem Heimweg werden Gedanken an Samariterkirche und Pater Karl verdrängt von aktuellen Aussagen hochrangiger Ex-Amazon-Mitarbeiter und Wirtschaftswissenschaftlern: Daten sind DER Rohstoff der Zukunft. / Wenn genügend Daten und entsprechende Algorithmen vorhanden sind, dann wissen wir, welche Bedürfnisse ein Kunde hat, bevor es ihm selbst bewusst wird. / Wenn man personenbezogene Informationen - nicht nur Werbung in Echtzeit schalten kann, führt das zu zielgerichteter Beeinflussung von Verhalten und Einstellungen.

Inzwischen stehe ich vor meiner Haustür. Die Tür ist schlicht, ohne kunstvolle Verzierungen, rein funktional. Doch mein Blick streift heute das geschwungene Stuckelement an der Fassade über dem Eingang. Lange nicht mehr gesehen, obwohl es so edel aussieht.

Wird etwa auch mein Verhalten bereits beeinflusst? Mich bedrängt jetzt die profane Frage: Obwohl Edgar Wallace Filme aus nostalgischer Sicht ja super sind - wo befinden sich eigentlich die Abschaltbutton der Mikrofone bei meinen unentbehrlichen elektronischen Helfern?

Peter Knie

Kurzbiografie Peter Knie

Aufgewachsen in Sachsen Anhalt und wohne seit 1980 in Berlin Friedrichshain. Tätigkeiten als Lehrmeister bei NARVA / Priamos und im Bereich Tourismus. Aufgrund von Interessen an Reisen, Fotografie, Geschichte und Schreiben seit 2019 im Projekt Kreuzberg.Mauer.Friedrichshain - 30 Jahre Wandel entlang der Spree. Lebensmotto: "Das wirklich Wesentliche im Leben muss in einen Rucksack oder sieben Fahrradtaschen passen"