Knarrend fiel die vertraute Tür zur Lehrwerkstatt ins Schloss. Durch die matten Scheiben sah ich auf die verwaisten Werkbänke und Werkzeugmaschinen. Wie an jedem Tag verschloss ich die Tür, doch heute war es anders: Es war mein letzter Blick als Lehrmeister für Metallberufe auf die Ausbildungsstelle des Berliner Glühlampenwerkes - man schrieb den Monat Mai des Jahres 1995. Die letzte Lehrlingsgruppe hatte bei der IHK die Prüfungen bestanden, neue Auszubildende wurden vom Kombinat NARVA nicht mehr eingestellt. Mit der Abwickelung des Betriebes endete auch die Existenz der Betriebsberufsschule. Das bedeutete, an den Werkbänken, auf die ich noch immer durch die matten Scheiben der Werkstattür  blickte, würde künftig kein Lehrling mehr stehen und mehr oder weniger bemüht sein, ein Stück Metall in die geforderte Form zu bringen.

Dann stand ich auf dem Pausenhof, ein lauer Luftzug machte die Stille erträglich. Die Betriebsberufsschule befand sich in zwei großen Hintergebäuden der Warschauer Straße 58/59. An den vorderen Wohnhäusern blätterte der Putz, die Mauern der Berufsschule jedoch trotzen der Zeit durch solide gelbe, graue und rote Klinkersteine. Doch der Pausenhof  hatte sich dem Zeitgeschehen gefügt, keine Auszubildenden würden den Platz künftig mit Leben füllen. Hier endete nach 47 Jahren die Lehrlingsausbildung des Berliner Glühlampenwerkes, die Existenz der NARVA-Betriebsberufsschule, die seit 1974 den Namen Olga Benario-Prestes trug. 

Die Lehrlingsausbildung bei NARVA begann nicht in den Gebäuden der Warschauer Straße, sondern 1948 im Erdgeschoss eines Produktionsgebäudes des noch immer von den Kriegsschäden gezeichneten Stammwerkes an der Warschauer Brücke. Acht Lehrlinge erhielten ihre praktische Ausbildung in einer kleinen, notdürftig hergerichteten Lehrwerkstatt. Schlosser, Dreher, und Mechaniker waren die ersten Ausbildungsberufe. Ein Jahr später startete die theoretische Ausbildung, die der Betrieb Gaselan, die ehemalige Firma Julius Pintsch, übernahm; in einem der wenigen Industriegebäude nahe des Ostbahnhofes, die den Krieg überstanden. Als Relikt der Geschichte Friedrichshains konnte man den einstigen Firmennamen an der Fassade viele Jahrzehnte aus der vorbeifahrenden S-Bahn noch sehen. Die Lehrlinge füllten ihre Woche mit vier Tagen Praxis und drückten an zwei Tagen die Schulbank.

Schon ein Jahr später, im August 1949, wurde in einem anderen Produktionsgebäude des Glühlampenwerkes eine neue Lehrwerkstatt eröffnet. Es waren bereits 150 Ausbildungsplätze; an Berufen kamen Elektromechaniker, Glasbläser und Physikalisch-technische Assistenten hinzu. Im Jahr darauf erfolgte schließlich die Gründung der Betriebsberufsschule; Theorie und Praxis fanden also in einem Betrieb statt. Die rasante Entwicklung zeigte sich in 289 Lehrlingen und 12 Klassen. Das Berliner Glühlampenwerk entwickelte sich, wie einst OSRAM an diesem Platz, zu einem Großbetrieb in Friedrichshain. Da durfte die Berufsausbildung nicht nachstehen. 1958 begann der Polytechnische Unterricht (Schüler der 7. bis 10. Klassen wurden an einem Tag im Monat mit praktischen, betriebsspezifischen Arbeiten betraut). Im Jahr, als die Berliner Mauer errichtet wurde, nahm 1961 die erste Gruppe ihre Berufsausbildung mit Abitur auf, ein Bildungskonzept, dass heute wieder unter neuem Namen Akzeptanz findet.

Ein bedeutender Meilenstein war das Jahr 1967. Es erfolgte der Umzug der gesamten Lehrlingsausbildung in einen Gebäudekomplex der Warschauer Straße 58/59. Die Betriebsberufsschule entwickelte sich zu einem wichtigen Ausbildungszentrum in Friedrichshain und unzählige Jugendliche haben hier ihre berufliche Laufbahn begonnen. Als Facharbeiter, als Pädagogen, als Wissenschaftler oder auch als Künstler. Einer unterhält das Publikum als Schauspieler in österreichischen und deutschen Theatern, eine andere wurde ebenfalls Schauspielerin und ist seit Jahren als Wettermoderatorin in einem Privatsender zu sehen.

In fast 50 Jahren Berufsausbildung war die Betriebsberufsschule von NARVA ein wichtiger Bestandteil des Lebens in Friedrichshain und hat die verschiedensten gesellschaftlichen Umbrüche durchlebt. So auch das Ende der DDR; ein Land, das durch die staatlich ausgerichtete Bildungspolitik mit allen positiven und negativen Begleiterscheinungen auch diese Schule, seine Mitarbeiter und Auszubildende wesentlich geprägt hatte.

1990, die Berliner Mauer war gefallen, begann die Abwicklung vieler Betriebe. Wir Lehrmeister und Lehrer dachten damals, Berufsausbildung ist in jeder Gesellschaft eine sichere Tätigkeit und gingen davon aus, bis zum Ende unseres Berufslebens hier in der Warschauer Straße Lehrlinge auszubilden. Doch das klappte nur bis zum besagten Jahr 1995. Unsere Schule war an den Betrieb gekoppelt und mit dem Ende von NARVA endete auch die Lehrlingsausbildung.

Am Eingangsportal zum Treppenaufgang waren die ersten Schilder von kleinen Firmen zu sehen, die nach und nach in die ehemaligen Klassenräume und Werkstätten einzogen. Das große Maschinenkabinett wurde umgestaltet zu einem Tanzstudio.

Ich stand also auf dem Pausenhof der Betriebsberufsschule, hatte letztmals die Türen verschlossen und an diesem Tag endete auch meine berufliche Tätigkeit als Lehrmeister. Aber die gesellschaftlichen Umbrüche ermöglichten auch, neue berufliche Herausforderungen und Interessen anzugehen.

20 Jahre später kehrte ich für wenige Wochen einer Weiterbildung in die Warschauer Straße zurück. Von den Höfen sah ich auf die unveränderten Fensterfronten. Ich stieg auf den ausgetretenen Stufen der Treppen in die oberen Etagen, die Wände hatten neue Farben und auf den alten Türen der Klassenräume und Werkstätten waren Schilder der nun ansässigen, kleinen Unternehmen. Vieles war mir noch vertraut. Doch von den Menschen, denen ich begegnete, kannte ich keinen. Eine Patina der geschichtlichen Vergänglichkeit hatte sich über die einstige Betriebsberufsschule gelegt.

Mittlerweile schreiben wir das Jahr 2020. 25 Jahre nach dem Ende der Lehrlingsausbildung bei NARVA gibt es noch ein kleines Flämmchen Leben der ehemaligen Betriebsberufsschule. Dieses Flämmchen glimmt zwei Mal jährlich auf – dann treffen sich die damaligen Lehrmeister seit nun einem viertel Jahrhundert noch immer für ein zweistündiges Bowling und anschließendem gemeinsamem Essen. Inzwischen haben viele ein Alter von über 80 Jahren erreicht, einige von ihnen sind nicht mehr in der Lage zu bowlen, aber in Gesprächen über die alten und aktuellen Zeiten hat die NARVA Betriebsberufsschule noch immer ein kleines Lebenslicht.

Peter Knie

Kurzbiografie Peter Knie

Aufgewachsen in Sachsen Anhalt und wohne seit 1980 in Berlin Friedrichshain. Tätigkeiten als Lehrmeister bei NARVA / Priamos und im Bereich Tourismus. Aufgrund von Interessen an Reisen, Fotografie, Geschichte und Schreiben seit 2019 im Projekt Kreuzberg.Mauer.Friedrichshain - 30 Jahre Wandel entlang der Spree. Lebensmotto: "Das wirklich Wesentliche im Leben muss in einen Rucksack oder sieben Fahrradtaschen passen"