Der Blick der Frau ist unmissverständlich ernst. Sie erhebt ihren Arm, ihr rechter Zeigefinger zeigt mahnend nach oben. Doch die Situation ist gefahrlos - ihr Kopf wird von einem Lorbeerkranz gekrönt. Erst jetzt erkenne ich, dass sie Flügel hat. Die Frau ist grün, gusseisern metallisch. Sie ist Teil eines Denkmals, an dessen Spitze ein eisernes Kreuz weit in den Himmel ragt. Nach diesem Kreuz bekam nicht nur der Berg, auf dem das Denkmal steht, seinen Namen, sondern auch der Stadtbezirk. Der hat mittlerweile einen Doppelnamen, teilt sich diesen mit Friedrichshain. Die Ostberliner Seite ist mein Heimatbezirk. Nun bin ich im Kreuzberger Teil im Viktoriapark, an diesem nach einem Schinkel-Entwurf gestalteten imposanten, neugotischen Bauwerk, dem Nationaldenkmal für die Befreiungskriege gegen Napoleon.

Vom Sockel der Aussichtsplattform habe ich einen weiten Blick auf das umliegende Stadtgebiet. Im Norden erstreckt sich die lange Gerade der Großbeerenstraße. Die Hochhäuser vom Potsdamer Platz, das Internationale Handelszentrum bei der Friedrichstraße, die Kuppeln der beiden Dome am Gendarmenmarkt, das Park Inn und der Fernsehturm am Alexanderplatz beherrschen die Skyline. Als ich in der frühen Nachwendezeit erstmals hier auf dem Kreuzberg stand, fühlte ich mich noch wie ein Fremder auf touristischer Reise in diesem mir unbekannten West-Berlin. Aber in den hohen Gebäuden, da wo Ost-Berlin war, fand ich die bekannten Bezugspunkte einer heimischen Vertrautheit. Aus dieser Vogelperspektive war damals vom Potsdamer Platz noch nichts zu sehen, der duckte sich in die triste Einöde des Niemandslandes eines ehemaligen Grenzstreifens.

Der Kreuzberg ist die höchste natürliche Erhebung der Berliner Innenstadt. Von hier oben suche ich durch die Baumwipfel vergeblich den anderen Hügel, der für den gemeinsamen Stadtbezirk so charakteristisch ist. Für einige Jahre war der sozusagen mein Hausberg - der Große Bunkerberg im Volkspark Friedrichshain, auch Mont Klamott genannt. Dieser ist, anders als der Kreuzberg, kein natürlicher Berg, er ist ein Trümmerberg, der auf den gesprengten Weltkriegsbunker aufgeschüttet wurde. Mich verbindet dieser Berg noch heute mit dem gleichnamigen Silly-Song "Mont Klamott" von 1983.

"Mitten in der City zwischen Staub und Straßenlärm
Wächst ne grüne Beule aus dem Stadtgedärm
Dort hängen wir zum Weekend die Lungen in den Wind
Bis ihre schlappen Flügel so richtig durchgelüftet sind ...
Mont Klamott auf'm Dach von Berlin
Mont Klamott sind die Wiesen so grün" *

Auch am Fuße des Kreuzbergs erstreckt sich eine weite Wiesenlandschaft. Eine Kindergartengruppe, in gelb-rote Warnwestchen gehüllt, ist bemüht, ihre Drachen steigen zu lassen. Manchmal setzen sich die Drachen gegen den Kinderwillen durch; einer hat sich von seiner Schnur gelöst und sich weit oben im Nationaldenkmal verfangen. Ein bunter, grinsender Drachen aus Kinderhand baumelt nun respektlos zwischen Lorbeerkränzen und Speeren einstiger Helden der Geschichte.

Unweit von meinem Hausberg, dem Mont Klamott, stand zu DDR-Zeiten ebenfalls ein Denkmal. Anders als auf dem Kreuzberg zeigte es nicht mehrere Helden, sondern nur einen. Lenin. Und der Platz hieß folgerichtig Leninplatz. Es wäre heute interessant zu wissen, wie kurz sich ein grinsender Kinderdrachen auf dem Kopf Lenins damals hätte behaupten können. Das Denkmal wurde 1991 abgerissen und bei Berlin-Müggelheim vergraben. Der steinerne Leninkopf hat überlebt, in der Zitadelle Spandau ist er für die Nachwelt erhalten.

Da, wo damals Lenin weit aufragte, ist heute am Platz der Vereinten Nationen ein Sprudelbrunnen mit großen Granitsteinen, die die fünf bewohnten Erdteile darstellen. Jetzt, es ist November 2021, ist das Wasser abgestellt. Hinter der mehrfarbigen Granitsteingruppe wölbt sich in beeindruckenden Herbstfarben der baumbewachsene Mont Klamott. Heute ist er nicht mehr mein Hausberg, ich wohne in einem anderen Friedrichshainer Kiez, und er ist auch nicht mehr der einzige Berg im gemeinsamen Stadtbezirk. Es brauchte Zeit zur Akzeptanz des Neuen, Unbekannten, aber mittlerweile ist es für mich Normalität, dass man nun in Friedrichshain-Kreuzberg lebt. Ich erinnere mich noch gut an die ersten Begegnungen mit diesem unentdeckten Land Kreuzberg. Auch an den meist gleichen Weg, der mich oft vom Mont Klamott im Volkspark Friedrichshain nach Süden bis zu diesem zweiten Berg führte:

Vorbei an meinem ehemaligen Wohnhaus der Strausberger Straße - im Erdgeschoss die Bäckerei Rummel. Unvergessen der tägliche Duft frischer Brötchen im Treppenhaus. Auf der Karl-Marx-Allee bis zum Frankfurter Tor und in die Warschauer Straße hinein. Täglicher Arbeitsweg vieler Jahre. Der führte zur Betriebsberufsschule von NARVA und hinter der Warschauer Brücke zum Berliner Glühlampenwerk. Schließlich die Oberbaumbrücke. Hier endete der Stadtbezirk Friedrichshain. Und das Ende war endgültig in Richtung Spree. Akzeptierte Tabuzone. Für mich bis zum 10. November 1989. Am Vorabend öffneten die Grenzer der Oberbaumbrücke die Schlagbäume und einen Tag später stand ich in einer der beiden Schlangen vor der Passkontrolle in der Absicht, einen Visa-Stempel für den kommenden Sonntag für West-Berlin zu bekommen. Ich stand in der falschen Schlange und bekam den gewünschten Stempel nicht. Kommentarlos aber einen anderen in meinen Personalausweis gedrückt: Schwarz auf Grün - statt für einen Tag, ein Visum für drei Monate. Doch am besagten Sonntag, meiner ersten Begegnung mit Kreuzberg, wollte keiner mehr irgendeinen Stempel sehen. Von der Zeit und den Ereignissen überrollt, betrat ich erstmals Kreuzberg.

Vom südlichen Spreeufer hatte ich einen freien, unverstellten Blick auf die Mauer aus West-Berliner Sicht. Die graue Wand, noch unbesprüht, zog sich am Flussufer weit in Richtung Stadtmitte. Welch eine Perspektive auf Niemandsland dreier Jahrzehnte. Wenig später am Bahnhof Schlesisches Tor. Was für ein schönes Gebäude! Ab hier fährt also die U-Bahn. Auf der langen Geraden der Skalitzer Straße weiter nach Kreuzberg hinein. Mosaiksteinpflaster auf den Gehwegen. Auf den Straßen keine Trabis. Die U-Bahntrasse als Hochstrecke, wie im Ostteil in der Schönhauser Allee. Aber hier in Kreuzberg war es anders. Es war bunter, nicht nur die Hausfassaden, lauter, quirliger und es roch anders. Aber auch nicht so, wie es aus den Westpaketen duftete. Und es gab mehr Frauen mit Kopftüchern. Die dominanteste Erinnerung: die unglaubliche Angebotsfülle an prallen Obstständen. Maybachufer. Ähnliches sah ich bisher nur in Bulgarien. Und manchmal fühlte ich mich auch so - auf Tour in der Fremde zu sein. Nur hier hatte ich keinen schweren Rucksack auf dem Rücken, meine Wohnung lag nur wenige Kilometer nördlich der Spree. Meist verließ ich am Kottbusser Tor die Skalitzer Straße und wanderte auf den Uferwegen des Landwehrkanals weiter. Beinahe wie an der Spree im Osten der Stadt. Naturnahe Räume, Enten und Möwen auf dem Wasser, Jogger auf den Uferwegen. Hier wurde ich so langsam warm mit Kreuzberg. U-Bahnhof Hallesches Tor. Auf dem Mehring Platz, weg von den ruhigen Wasserlandschaften, der Aufprall in den Straßentrubel der Großstadt. Es war nicht irgendeine Straße, es war die Friedrichstraße, die hier ihr Ende oder ihren Anfang nimmt. Friedrichstraße, etwas Bekanntes - ich war also doch noch in Berlin. Zum Viktoriapark war es nun nicht mehr weit. Auf den letzten Metern der Bergmannkiez. Restaurierte Gründerzeithäuser, Antiquitätengeschäfte, exotische Restaurants - Straßenschaufenster in die Welt.

Auf der Kreuzbergstraße die Zielgerade zum Viktoriapark.

Wie bei meinem ersten Besuch vor nun drei Jahrzehnten stehe ich am Fuß des Kreuzbergs vor einer patinagrünen Skulptur und weiß noch immer nicht: Hat der Fischer die Nixe im Netz gefangen oder aus einer misslichen Lage befreit? Die Antwort hängt wohl vom Gemütszustand des Betrachters ab.

Über das steinige Bett des Wasserfalls erhebt sich der Kreuzberg. Das schlanke, spitztürmige Nationaldenkmal ragt wie immer zeitlos zwischen den Bäumen metallisch grün in den Himmel. Auf den teilweise engen Pfaden der felsigen Wolfsschlucht steige ich nach oben. Die lorbeerbekränzte Frau am Denkmal erhebt noch immer ihren mahnenden Finger. Zeitlos wohl auch der Autoverkehr auf der Großbeerenstraße und der Blick auf die Dächer Berlins. Doch vor 30 Jahren war die Skyline eine etwas andere. Einige Dächer sind verschwunden, neue sind dazugekommen. Begegnungen mit Landschaften, Menschen, Architektur. Einstige Lebensinhalte sind neuen gewichen. Von Bergen hat man wohl einen tieferen Blick auf die Dinge. Vom Kreuzberg wie auch vom Mont Klamott. Und mittlerweile fühle ich mich längst nicht mehr als Tourist in einem unentdeckten Land der Wandlungen von Vertrautem zu Neuem.

Ich glaube, der Fischer am Fuße des Kreuzbergs hat die Nixe eher gerettet als gefangen.

* Mont Klamott   Text: Werner Karma

Kurzbiografie Peter Knie

Aufgewachsen in Sachsen Anhalt und wohne seit 1980 in Berlin Friedrichshain. Tätigkeiten als Lehrmeister bei NARVA / Priamos und im Bereich Tourismus. Aufgrund von Interessen an Reisen, Fotografie, Geschichte und Schreiben seit 2019 im Projekt Kreuzberg.Mauer.Friedrichshain - 30 Jahre Wandel entlang der Spree. Lebensmotto: "Das wirklich Wesentliche im Leben muss in einen Rucksack oder sieben Fahrradtaschen passen"