160 Kilometer Fusion von Berliner Geschichte und Naturerleben

"Was - hier verlief die Mauer?" Zweifelnde und ungläubige Blicke in vielen Gesichtern so manches weitangereisten Berlinbesuchers. In den entferntesten Winkeln der Welt konnte man hören: "Berlin - das ist doch die deutsche Stadt mit der Mauer!" Was beinahe 30 Jahre das internationale Markenzeichen für Berlin war, ist heute geschichtliche Erinnerung, teils großflächig überbaut mit Gebäuden und Parkanlagen. Wo die einstige Grenze verlief, ist an vielen Stellen kaum noch auszumachen. Doch wenn man genau hinsieht, entdeckt man sie, die Zeichen eines der neueren touristischen Highlights der Stadt - die unauffälligen, blassen Schilder mit der Aufschrift Berliner Mauerweg und dem kleinen grauen Grenzturm über dem Schriftzug. Wer seine Blicke auf den Boden richtet, kann im Innenstadtbereich einen schmalen, doppelläufigen Kopfsteinpflasterstreifen und auf in den Asphalt eingelassene rostfarbene Stahlplatten mit der Inschrift: "Berliner Mauer 1961 - 1989" sehen. Hier entstand zwischen 2002 und 2006 ein für die Stadt einzigartiger Wander- und Radweg, der an den einstigen Grenzverlauf erinnert. Das Markenzeichen "Berliner Mauer" gewann damit wieder an touristischer und geschichtsaufarbeitender Bedeutung.

Die Mauer, die die Stadt 29 Jahre prägte, hielt im Wendejahr 1989 nicht länger stand, sie musste den gesellschaftlichen Veränderungen weichen. Tabuzonen im Todesstreifen, Grenztruppen und Niemandsland sind verschwunden, gekappte Verkehrsverbindungen und Geisterbahnhöfe gibt es nicht mehr. Mittlerweile sind die ehemaligen Grenzanlagen Relikte der Geschichte, die durch den Berliner Mauerweg aber im Bewusstsein der Stadt bleiben. Er ist inzwischen ein gut ausgebauter Wander- und Fahrradweg, der in 160 Kilometern um das ehemalige West-Berlin herumführt und mit unerwartetem Naturerleben überrascht. Westseitig verläuft er meist auf den einstigen Zollwegen, auf der Ostseite auf den damaligen Kolonnenwegen der Grenztruppen. In der Innenstadt ist es oft anders, hier ist er Bestandteil der Bebauung und integriert sich in das Straßenbild. Manchmal, wie am Potsdamer Platz, verschwindet er in einem der neuen Gebäude und taucht irgendwo wieder auf. Die Mauerweg-Schilder helfen aber meist, die Orientierung zum alten Grenzverlauf nicht zu verlieren. An den wird eindrücklich an den Stellen erinnert, wo der Mauerweg vorbei an den letzten verbliebenen Wachtürmen und Mauerresten, an Museen und Gedenkstätten führt. East Side Gallery (Stralauer Platz), Dokumentationszentrum Topographie des Terrors (Zimmerstraße) und die Gedenkstätte Berliner Mauer (Bernauer Straße) sind die touristischen Hotspots am Berliner Mauerweg. Auf der Strecke verteilt stehen zahlreiche mehrsprachige Infotafeln und Gedenkstelen. Übersichtskarten erleichtern auf der gesamten Strecke die Positionsbestimmung.

Der Berliner Mauerweg ist zu einem festen Bestandteil des Berlin-Tourismus geworden. Bis 2025 soll er erneuert, das Informationssystem ausgebaut und barrierefrei werden.

Ein Ballon über der Mauer und was Axel Springer nicht mehr erfuhr

Im Jahr 2010 hatte ich den Berliner Mauerweg erstmals komplett abgewandert und zehn Jahre später erneut die Strecke in Friedrichshain-Kreuzberg. Diese 160 Kilometer waren ein unmittelbares Eintauchen in ein Stück Berliner Geschichte, wo man gerade im Umfeld des ehemaligen Grenzverlaufs auf die deutlichsten Veränderungen der letzten Jahre im Stadtbild stößt. An der ehemaligen Außenstadtgrenze zu Brandenburg haben Naturlandschaften die alten Grenzanlagen abgelöst. Die zahlreichen Informationssäulen am Mauerweg dokumentieren gescheiterte und tödliche Fluchtversuche. Eine oft tragische Fehleinschätzung, dass die Grenze in weiter Naturlandschaft nachlässiger bewacht werde als in der Innenstadt. Dort, wie in Friedrichshain-Kreuzberg, wird der Berliner Mauerweg Bestandteil des Straßenbildes oder integriert sich unauffällig in Parklandschaften. 

Den grundlegenden gesellschaftlichen Wandel der letzten Jahrzehnte erlebe ich im Frühjahr 2020 unspektakulär an der Zimmerstraße. Ich stehe an der Mauer, die als eine der noch wenigen längeren Grenzanlagen am Dokumentationszentrum Topographie des Terrors überlebt hat. Der Beton ist inzwischen porös, aus der angenagten Mauer ragen rostende Armierungsstähle, die den einst undurchdringlichen Beton wie braune, erschlaffte Nudeln durchziehen. Mehrere Löcher zeugen von Aktivitäten damaliger „Mauerspechte“. Die Sonne erhellt die verblassenden Graffitis nur noch matt. Der Himmel ist wolkenlos. Über der rohrförmigen, oberen Mauerabdeckung, die ein Überwinden der Wand einst fast unmöglich machte, taucht plötzlich ein Ballon auf. Fast bewegungslos steht er hoch über der Mauer und scheint triumphierend aus dem makellosen blauen Himmel herabzusehen. Zu DDR-Zeiten hätte es jetzt Grenzalarm gegeben - panische Aktivitäten an diesem Mauerabschnitt. Heute, im Jahr 2020, bleibt alles ruhig, keiner achtet auf diesen Ballon, der auch noch den für diese Situation passenden Schriftzug "Die Welt" trägt. Minuten später sehe ich auf meiner Mauerwegtour den Ballon wieder. Er ist gelandet und wartet auf neue Passagiere, die aus Vogelperspektive einen heute gefahrlosen Blick auf das Umfeld des alten Grenzverlaufs riskieren wollen.

Ich folge weiter den Spuren der Kopfsteinpflasterlinie vom Berliner Mauerweg. Wer Höhenangst hat und sich nicht in den Ballon traut, kann bei "Trabiworld" eine Stadtrundfahrt mit nostalgischer Lenkradschaltung und 26 PS buchen. Schon 2010 blickte ein Trabant mit Safari-Outfit von einem Podest auf das Umfeld des Berliner Mauerweges herab. Im gleichen Jahr standen am einstigen Grenzübergang Checkpoint Charly am Wachhäuschen noch uniformierte Animateure, die zu Gruppenfotos aufforderten. Gegenwärtig, 2020, sind diese verschwunden, das Infozentrum "Checkpoint Charly - Black Box" kümmert sich nun um die vielfältigen Interessen der Touristen.

Der Berliner Mauerweg folgt weiter der Zimmerstraße. An beiden Straßenseiten hohe Häuser mit gewaltigen Glasfassaden, die vollends die futuristischen Fronten der Gegenseite spiegeln. Unvorstellbar, dass hier einmal ein stiller, weitläufig abgeriegelter Grenzstreifen war. Dann, schon von Weitem sichtbar, das Springerhochhaus. Das gelbe Gebäude mit seiner unendlichen Fenster-Fassade ist eine meiner wenigen Erinnerungen, die ich aus DDR-Zeiten noch habe, als ich von der Leipziger Straße aus dieses Haus weit über die Dächer ragen sah. Heute zieht ein anderes Bauwerk meine Blicke auf sich - das danebenliegende, neu errichtete zweite Verlagsgebäude unmittelbar am Berliner Mauerweg. Für mich ist es eines der wenigen glasdominierten Fassaden, die eine interessante, sehenswerte Architektur haben. In einem Zick-Zack-Kurs quert der Mauerweg die Rudi-Dutschke-Straße. Auf der Fahrbahn quere ich in wenigen Metern drei Mal den alten Grenzverlauf. Das wären drei Grenzdurchbrüche während einer Ampelphase. Eigentlich schade, dass Axel Springer nicht mehr erfahren hat, dass diese Straße im Schatten seines Hochhauses nach Rudi Dutschke benannt wurde.

Ehemalige Randlagen in Kreuzberg, Paradiesische Fenstersichten und die berühmten Kunstwerke auf der anderen Mauerseite

Der Berliner Mauerweg führt über die Kommandantenstraße, Alte Jakobstraße (hier kann man durch den begrünten Mittelstreifen sich den Grenzverlauf noch gut vorstellen) in die Sebastianstraße. Eine Informationstafel über einen 1962 verratenen Fluchttunnel  zeigt Fotos dieser ehemaligen Grenzanlage. Auf den vergilbten Bildern ist auch zu sehen, welchen Zustand die heute gut sanierten Wohnhäuser auf der Kreuzberger Seite in unmittelbarer Randlage zur Mauer damals hatten. 

Wo ich 2010 noch auf unbebaute Baulücken oder naturbelassene Freiflächen traf, prägen nun, 10 Jahre später, neue Wohnhäuser und Parkanlagen das Umfeld des Berliner Mauerwegs.

Über die Waldemarstraße führt der alte, verwinkelte Grenzverlauf zum Engelbecken. Aus dem trockengelegten Grenzgebiet und einer späteren Wagenburg ist heute eine Parkanlage mit Wasserbiotop entstanden mit einem beeindruckenden Ausblick auf die Michaelkirche. Paradiesische Fenstersichten wohl auch für hoffentlich nicht ausschließlich gut verdienende Altmieter, die noch vor 30 Jahren auf das graue Grenzumfeld blickten. Eines der zahlreichen Beispiele für eine zunehmende Gentrifizierung im Umfeld des Berliner Mauerweges. Ich folge dem Mauerweg entlang einer Parkanlage, die am ehemaligen Luisenstädtischen Kanal bis zur Schillingbrücke führt. Von ihr habe ich einen weiten Ausblick auf die Spree bis hin zur Oberbaumbrücke. Am Nordufer hat der Beachclub "YAAM" wegen der Corona-Pandemie geschlossen.

Ich brauche nur wenige Minuten, bis der Berliner Mauerweg auf die East Side Gallery trifft. Bei meiner ersten Tour war diese Freiluftgallery noch ein fast lückenloser Mauerabschnitt. Nun ist er mehrfach unterbrochen, ein Hochhaus ragt über die kunstvoll bemalte Berliner Mauer und hat ein weiteres Loch in die 1316 Meter lange East Side Gallery geschlagen. Hinter der Mauer lag die Tabuzone der Grenztruppen, der Blick auf die Spree war versperrt. In den letzten Jahren ist hier ein breiter, weitläufiger Uferweg entstanden. Zehn Jahre vorher stand ich vor einem Drahtgitterzaun und blickte auf einen noch streckenweise unzugänglichen Sandstreifen zwischen Spree und Mauer, die auf dieser Seite unberührt weiß in der Sonne glänzte. Bei meinem jetzigen Besuch ist die gesamte Wand zeitgemäß übersprüht. Die Kunstwerke der East Side Gallery befinden sich auf der anderen Mauerseite.

Ich ziehe es vor, dem Touristenandrang auszuweichen, und wandere auf dem gut ausgebauten Uferweg weiter. Die Stiftung Berliner Mauer hat einen Informationswagen aufgestellt und bietet Führungen an der East Side Gallery an. Am gegenüberliegenden Spreeufer alte und neue Häuser von Kreuzberg, im Osten ragen die roten Backsteintürme der Oberbaumbrücke in den Himmel. Hier quert der Berliner Mauerweg die Spree und führt in den letzten Abschnitt meiner Wanderung an der ehemaligen Grenze zwischen Friedrichshain und Kreuzberg.

 

"Hier stand doch schon einmal 40 Jahre lang ´ne Mauer"

Entlang der Schlesischen Straße führt der Mauerweg zum Landwehrkanal und Flutgraben. Die Kanalinsel ist heute Szenegegend. Alternative Clubs, Künstlerwerkstätten und Gaststätten prägen das einstige Grenzrandgebiet.

Der Berliner Mauerweg biegt nach Süden ab und führt als Uferweg am Flutgraben weiter. Im angrenzenden Schlesischen Busch steht auf einer weiten Wiesenfläche einer der erhaltenen Grenztürme. Wie vor zehn Jahren ist er übersprüht, nur die Nachrichten sind andere. Bei meiner damaligen Tour war das Kanalufer am Landwehrkanal durch einen langen Drahtzaun abgegrenzt. Auf einem handgemalten Schild war zu lesen: "Hier stand doch schon einmal 40 Jahre lang ´ne Mauer". Jetzt ist der Zaun verschwunden, das Kanalufer ist auf seiner gesamten Länge zugänglich. Zugänglich ist auch die Wagenburg Lohmühle, die sich bis in die Gegenwart gehalten hat.

Mittlerweile hat der Berliner Mauerweg Friedrichshain verlassen, die ehemalige Grenze trennte hier Kreuzberg von Treptow. Das ist dann aber schon eine andere Geschichte.

Peter Knie

Kurzbiografie Peter Knie

Aufgewachsen in Sachsen Anhalt und wohne seit 1980 in Berlin Friedrichshain. Tätigkeiten als Lehrmeister bei NARVA / Priamos und im Bereich Tourismus. Aufgrund von Interessen an Reisen, Fotografie, Geschichte und Schreiben seit 2019 im Projekt Kreuzberg.Mauer.Friedrichshain - 30 Jahre Wandel entlang der Spree. Lebensmotto: "Das wirklich Wesentliche im Leben muss in einen Rucksack oder sieben Fahrradtaschen passen"