Wir schreiben das Jahr 2020. Ganz Kreuzberg hat sich in den letzten dreißig Jahren verändert.

Ganz Kreuzberg?

Nein.

In der Oranienstraße Ecke Luckauer gibt es ein Restaurant mit dem Namen Stiege.

Wenn man durch die Tür tritt, ist es so, als würde man einen Ereignishorizont überschreiten.

Hier ist schlicht und einfach die Zeit stehen geblieben.

Vor einiger Zeit war ich mal wieder nach vierzigjähriger Abstinenz dort, und war in zweierlei Hinsicht überrascht…

Zum Einen hatte ich eigentlich gar nicht damit gerechnet, dass die Kneipe noch existiert. Zum anderen musste ich feststellen, dass sich dort nichts, aber auch gar nichts verändert hat!

Alles war noch so, wie ich es in Erinnerung hatte: Die braune Holzvertäfelung, die teils seltsame Dekoration, die selben Bilder noch an den Wänden und sogar in der Toilette hing noch das alte kleine Waschbecken mit dem urigen Drehgriff aus Messing. Ich konnte es kaum glauben - sogar das Waschbecken…!

Ich kam mir vor wie ein Zeitreisender, der vierzig Jahre in die Zukunft unterwegs war, und dann wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrte, als hätte es nur einen Wimpernschlag gedauert.

Keine hundert Meter von hier fiel vor dreißig Jahren die Mauer - hat die Stiege nicht gekratzt.

Drumherum wurde neu gebaut - hat die Stiege nicht interessiert.

Die Menschen wurden älter und die Mode wurde bunter - hat die Stiege nicht berührt.

Und denen, die heute noch jung sind, möchte ich sagen: Nehmt im Alter ein Lufttaxi und kehrt mal dort ein; die Chancen stehen gut, dass ihr noch eines der letzten unveränderten Relikte aus der guten alten Zeit vorfindet.

Inklusive Waschbecken mit Messinggriff.

Kurzbiografie Karl

Karl Klar (geboren in Ostwestfalen) macht Gemälde, Zeichnungen und Medienkunst.
Auf der Suche nach neuen Methoden zur "Lektüre der Stadt" konzentriert er sich auf die Idee des "öffentlichen Raums": Der nicht-private Raum, der immer dann privat wird, wenn er als Lieblingsort erkoren wird. Karl Klar lebt und arbeitet in Berlin-Kreuzberg.