Wenn ich manchmal abends einen Spaziergang durch Kreuzberg mache, dann gehe ich meistens die selbe Strecke wie immer. Und was anfangs noch Gewohnheit war, wurde nach über dreißig Jahren zum Ritual.

Ich komme mir dann vor wie ein Löwe, der sein Revier abschreitet.

Allerdings ist es wohl auch dem fortgeschrittenen Alter geschuldet, dass der Radius mit der Zeit immer kleiner wird.

Anfang der Neunziger bin ich am Wochenende mit Freunden noch richtig um die Häuser gezogen. Es fing dann meist mit ein paar gemütlichen Runden Poolbillard am Oranienplatz an, in diesem schönen ehemaligen Kaufhaus, in dem sich auch das Trash befand. Darin wurde in der Regel Rock der härteren Gangart gespielt, die wir zu der Zeit mochten. Da wir zumeist eine männliche Gruppe waren, war der Neuigkeitenaustausch nach einer halben Stunde erledigt und wir konnten uns dem Wesentlichen zuwenden: Bier und laute Musik.

Ein paar Stunden später dann ins SO36, wo wir ein paar alt gewordene Punks beim Bierflaschen-Weitwurf zusahen - lag ja auf dem Weg. Von dort zogen wir in die Wiener Straße ins Bronx - mehr Bier, die Musik noch lauter.

Ab da ging es mit dem Laufen nicht mehr so gut und wir fuhren mit dem Taxi zum Mehringdamm - fünf Stockwerke rauf in die Dachluke - eine Disco über den Dächern mit Fensterplätzen. Hier gab es oft Keilereien zwischen Punks und Poppern, oder Rockern und Ravern oder was weiß ich. Nur die New Wave Typen hielten sich raus - hatten wohl Angst um ihre toupierten Frisuren.

Gegen Morgen dann noch mit der U-Bahn zum Hermannplatz ins Sektor, der ein paar Jahre zuvor noch Cheetah hieß und in dem sogar mal Suzie Quatro aufgetreten ist.

Hier schliefen wir bei Depeche Mode Songs meist ein, bis uns die Putzkolonne dann weckte. Wir wohnten alle in der Nähe und deshalb war das Sektor als Absacker perfekt.

Das ging ein paar Jahre so, und je älter wir wurden, desto kleiner wurde die Truppe und die Treffen wurden weniger. Das Publikum änderte sich, wir änderten uns, die Läden schlossen.

Unser Kreuzberg, welches für uns buchstäblich wie der wilde Westen war, gehört der Vergangenheit an.

Mir scheint, dass die nachgewachsene Generation kein Interesse daran hat, sich gegen die Gesellschaft aufzulehnen, so wie es damals in der Aura Kreuzbergs zu spüren war. Sie schafft es ja nicht mal, auch nur für eine Stunde das Smartphone auszustellen, um sich ihre Umgebung anzusehen oder um sich mit Fremden zu unterhalten.

In jedem U-Bahn-Wagen war damals mehr Leben als in manchen Clubs heutzutage. Natürlich ist das eine sehr subjektive Sichtweise - ein jeder hat seine eigene Einstellung dazu -, und jede Generation hat das Recht, ihre Zeit als die beste zu sehen - nur meine ist das nicht.

Jede Zeit baut sich ihren Raum.

Mit diesen Gedanken spaziere ich dann durch mein Revier und manchmal bildet der Nachhall des Vergangenen ein Tröpfchen Wehmut auf meiner Zunge.

Es schmeckt bittersüß.

Kurzbiografie Karl

Karl Klar (geboren in Ostwestfalen) macht Gemälde, Zeichnungen und Medienkunst.
Auf der Suche nach neuen Methoden zur "Lektüre der Stadt" konzentriert er sich auf die Idee des "öffentlichen Raums": Der nicht-private Raum, der immer dann privat wird, wenn er als Lieblingsort erkoren wird. Karl Klar lebt und arbeitet in Berlin-Kreuzberg.