Letzter Dezembertag 1999. Wir mit zehn Leuten irgendwo in Kreuzberg auf einem Hausdach, um ein spektakuläres Jahrtausendwechsel-Feuerwerk über der ganzen Stadt zu sehen.

Denkste.

Die ganze Stadt lag eingebettet in eine dicke Nebelwolke, aus der es kein Entrinnen gab. Wir sahen nicht mal das gegenüber liegende Dach, geschweige denn die Straße unten. Gedämpfter Böllerkrach und getrübter Blick vermählte sich mit gesunkener Stimmung - trotz gestiegenen Alkoholspiegels.

Stumm fragte ich in den Nebel hinein, was wohl die Zukunft bringen würde, aber ich erhielt keine Antwort.

Es kam mir vor, als wenn sich der Blick aufs neue Jahrtausend verschleiern wollte - als hätte es etwas zu verbergen…

Aber wir waren nicht nur wegen des Feuerwerks hier oben. Je näher der Jahreswechsel kam, desto häufiger erschienen die Berichte, in denen das sogenannte "Jahr-2000-Problem" behandelt wurde - gewürzt mit Katastrophenszenarien, welche leicht an Hysterie grenzten.

Dieses auch als "Millennium-Bug" bezeichnete Ereignis sollte aufgrund von Computerabstürzen wegen der automatischen Zeitumstellung zu angeblichen Systemausfällen führen, wobei es im schlimmsten Fall zu Flugzeugabstürzen, zur Kernschmelze in Atomkraftwerken oder auch zu unkontrollierten Abschüssen von Nuklearwaffen kommen könnte.

Das alles wollten wir uns natürlich nicht entgehen lassen.

Und so saßen wir auf unseren hochgeschleppten Bierkästen, zwischen Plastiktüten voll mit Feuerwerk und letzten Wünschen und warteten auf das Ende der Welt.

Und das Lustige daran war - wir hätten es noch nicht mal gesehen…

Später las ich, dass irgendwo in den USA ein Autofahrer eine Kfz-Steuerforderung für die letzten 100 Jahre über 760.000 Dollar erhalten hatte - weil irgendein Computer auf das Jahr 1900 sprang…(Ja, und in China fiel irgendwo ein Sack Reis um, weiß aber nicht mehr genau, wo).

Aber allein die Erwartungshaltung und die Location und Ja - auch dieser Nebel - machten diesen Abend für mich unvergesslich.

Heute ist dort, wo wir uns wie dumme Jungs benahmen, eine Dachgeschosswohnung, die, wie so häufig in den letzten Jahren, anscheinend nur gebaut wurden, um uns wieder ein paar Freiräume mehr zu nehmen.

Und was Silvesterfeiern angeht: Diese war meine letzte, weil es die schönste von allen war, denn: Wann soll man aufhören…?

Kurzbiografie Karl

Karl Klar (geboren in Ostwestfalen) macht Gemälde, Zeichnungen und Medienkunst.
Auf der Suche nach neuen Methoden zur "Lektüre der Stadt" konzentriert er sich auf die Idee des "öffentlichen Raums": Der nicht-private Raum, der immer dann privat wird, wenn er als Lieblingsort erkoren wird. Karl Klar lebt und arbeitet in Berlin-Kreuzberg.