„In den Gleisdreiecken, Gleisvielecken vielmehr laufen die großen, glänzenden, eisernen Adern zusammen, schöpfen Strom und füllen sich mit Energie für den weiteren Weg und die weite Welt: Aderndreiecke, Adernvielecke, Polygone, gebildet aus den Wegen des Lebens: Man bekenne sich zu ihnen!“

Diese Sätze sind von Joseph Roth verfasst worden und stammen aus seinem Beitrag „Tempel der Technik“ von 1924 für die Frankfurter Zeitung.

Ach übrigens, ich darf nicht vergessen zu erwähnen, dass der nachfolgende Text mit einem Augenzwinkern geschrieben wurde. Sonst ist noch jemand sauer, dass ich unsere Gegend geschmäht habe.

Ich wollte eigentlich an diese Stelle ein Zitat aus einem alten Artikel über das Ostkreuz setzen. Einen Artikel, der schon Patina angesetzt hat und Vintage-Feeling erzeugt. Leider konnte ich nichts dergleichen finden. So verwende ich stattdessen ein Zitat über das Gleisdreieck, denn ich finde, beide Bahnhöfe nehmen sich nicht viel. Überall das gleiche Wirrwarr an Schienen, Signalleitungen, Treppen und rostigen Stahlträgern.

Wenn man durch die Straßen in Charlottenburg, Schöneberg, Wittenau spaziert, fällt einem auf, dass an vielen Häusern dort Tafeln hängen, auf denen zu lesen ist, dass bekannte Vertreter der schreibenden Zunft hier Monate oder Jahre gewohnt haben. Dort im Westen haben sie alle mal gelebt, die Rang und Namen hatten. Meist in den Jahren, bevor die Faschisten an die Macht kamen. Da kann man schon neidisch werden. In Friedrichshain sucht man nach Tafeln mit Namen von Schriftstellern vergeblich. Einfach deshalb, weil fast niemand von ihnen hier gelebt hat. Die Arbeiterbezirke im Norden wie Prenzlauer Berg, Lichtenberg und Friedrichshain wurden von den Intellektuellen gemieden. Diese rein proletarische Gegend war ihnen wohl zu hart.

Eine große Anziehungskraft besaß dagegen das Viertel rund um das „Café des Westens“ an der Gedächtniskirche. Mit solchen Künstlercafés konnte Friedrichshain nicht punkten. Auch arme russischen Dichter, die vor der Oktoberrevolution geflohen waren, wie Nabukow (er schrieb später „Lolita“), Marina Zwetajewa und Boris Pasternak, ließen sich hier nicht blicken und schrieben dann auch nichts darüber. Christopher Isherwood, nach dessen Roman der Film „Cabaret“ in unserer Stadt gedreht wurde, ignorierte uns ebenfalls. Auch Klaus Mann ging lieber in die Schwulenkneipen und Cabarets an der Kantstraße, anstatt die Boxhagener Straße entlangzuschlendern und dieser „architektonisch wertvollen“ Straße in seinen Berlin-Romanen zur Unsterblichkeit zu verhelfen. Auch bei uns gibt es gutaussehende Männer. Stattdessen liebten sie alle das Gleisdreieck und besangen es. Außer Joseph Roth (von dem das Zitat am Anfang ist) auch noch Egon Erwin Kisch, Andrej Belyj und viele andere. Auch Günter Grass hat sich das nicht nehmen lassen.

Das Ostkreuz ignorierten sie einfach. Bei uns schien intellektuelle Ödnis zu herrschen und schon immer geherrscht zu haben. Auch in den Zweitausendern ist das nicht anders, und die Gegend ist immer noch kein Tummelplatz für schöpferische Geister geworden. „Es wird endlich Zeit, dass sich da was dran ändert.“ sagten die Leute in Rudis Nachbarschaftszentrum an der Modersohnbrücke und organisierten ab 2002 einen Schreibwettbewerb über das Ostkreuz. Der federführende Mitarbeiter ging aber 2016 in Rente und der Wettbewerb wurde nicht fortgesetzt. Die Themen wechselten jedes Jahr. Von „Ostkreuz im Nebel“, über „Ostkreuz – Die Verschwörung“, „Schönes Neues Ostkreuz“, „Die Träumer vom Ostkreuz“ und „Warten am Ostkreuz“ bis zu „Liebe am Ostkreuz“ war alles dabei. Alle Dichter, die schon ein paar Geschichten in der Schublade zu liegen hatten, oder auch Neulinge auf diesem Gebiet, wurden aufgerufen, ihren Mut zusammenzunehmen, und Storys einzusenden, die vom Ostkreuz inspiriert waren. So schossen, bildlich gesprochen, aus der vormaligen literarischen Brache Fontänen der Schreibkunst in den Himmel über Berlin. Leute, die mit Worten so zaubern konnten wie mein Lieblingsschriftsteller Marcel Proust, waren nicht darunter, aber viele waren sehr talentiert. Mir fehlten auch Storys, wo es um Rebellion und Aufmüpfigkeit geht. Im Gegenteil, in vielen von ihnen wurde heftig auf die Tränendrüsen gedrückt. Es waren viele Geschichten dabei, die von herzensguten Obdachlosen handelten. Ich habe eine Weile im Kiez Café in der Wühlischstraße gearbeitet, und dort waren wirklich nicht alle Heilige.

Auch die Beiträge zu „Liebe am Ostkreuz“ klangen nicht wirklich optimistischer, wie man es bei diesem Thema erwarten könnte. Auch hier wurde heftig von der Brücke gesprungen. Mein Kiez schien kein Hort der Glückseligkeit zu sein.

Wenn ihr wissen wollt, wie sich Autoren mit dem Ostkreuz auseinander gesetzt haben: Alle Geschichten sind im Internet veröffentlicht worden. Es lohnt sich, dort einmal reinzuschauen. www.rudizentrum.de/ostkreuz-literaturwettbewerb

Hier sind meine sieben Favoriten
Die Geschichte, die in meinen Augen die stärkste ist, handelt von einer Liebe, die natürlich, wie sollte es hier am Ostkreuz auch anders sein, schlecht ausgeht.

Sie spielt noch vor Mauerbau. Es ist „Die Bahnhofsbank“ von Brigitte Apel, die, wohl autobiografisch, über ihre kurze Beziehung mit einem Studenten berichtet. Die Liebe war zu Ende, noch ehe sie richtig angefangen hatte, denn er verließ sie, nachdem sie das erste Mal miteinander geschlafen hatten. Das muss die damals erst Sechzehnjährige schwer getroffen haben, sonst hätte sie bestimmt fünfzig Jahren später keine Erzählung darüber geschrieben. Solche unausgelebten Beziehungen verfolgen einen ewig, daran ändern auch Mann und Kinder nichts. Vielleicht hat sie gehofft, dass er im Internet nach ihr sucht, und dabei auf die Geschichte stößt. Wahrscheinlich hat mich das Gelesene deshalb so berührt, weil es dem ähnelte, was ich, dreißig Jahre nach ihr, mal mit jemanden erlebt hatte, der zu dieser Zeit auch Student war, Elektronik im ersten Semester. Das war Ende der Achtziger, die DDR lag schon in ihren letzten Zügen.
Leider habe ich von dieser begabten Autorin nichts mehr gefunden.

Brigitte Apel: Die Bahnhofsbank
„Am Ostkreuz stieg sie vergnügt aus dem Zug und wandte sich freudig erregt der Treppe zu, um hinunterzugehen, aber aus irgendeinem Grunde stolperte sie ein wenig und zerriss ihre Sandale. … Mühsam und vorsichtig humpelte sie also die Treppe hinunter, und da war er schon und legte seine langen Arme um sie. So standen sie eine kleine Weile traumverloren im Menschengewühl, gingen dann zu einer Bank ...
Wenn sie in den letzten fünfzehn Jahren mal mit der S-Bahn über Ostkreuz fuhr, musste sie immer an ihre kaputte Sandale denken, jedes Mal, nach all den Jahren. Aber es kam selten vor, sie lebte schon lange nicht mehr in Neukölln.“

Eine der Autorinnen geriet in einer Silvesternacht mit Gojko Mitic, unserem Defa-Chefindianer in ein Schneegestöber. Beide kamen sie vom Rundfunkgelände in der Nalepastraße, wo sie zusammen gearbeitet hatten.

Barbara Lemko: Prost Neujahr! Mit Goijko Mitic im Schneesturm
„Am Bahnsteig keine S-Bahn. Es waren auch keine Leute da. Keine  Lautsprecheransage, keine Anzeige. Nichts. Es wird kalt. Unsere Laune war getrübt. Wir schauten schweigend in die Richtung, aus der die S-Bahn kommen sollte. Sie kam nicht. Wir schauten auf die Uhr. Es ging auf Mitternacht. Es war Silvester. Silvester am Ostkreuz!“

Faszinierend fand ich auch die Story von Christa Block über die beiden Frauen um die Siebzig, die in einem Seniorentreff bei einer Veranstaltung miteinander ins Gespräch kamen. Weder am Aussehen noch an der Stimme erkannten sie sich. Erst nach einer Weile wurde Beiden klar, dass sie früher als junge Mädchen mal unzertrennliche Freundinnen gewesen waren und zusammen die Gegend unsicher gemacht hatten. Nach der Heirat hatten sie sich völlig aus den Augen verloren, obwohl sie in der Nähe der jeweils anderen wohnten. Für eine Frau verliert wohl die Freundin an Bedeutung, wenn ein Mann ins Spiel kommt. Jetzt bereuten sie das und wollten ihre Freundschaft neu beleben. Aber es war zu spät.

Christa Block: Es wär so schön gewesen...
„Nach langen Jahren trafen wir uns wieder. Einst waren wir Schulfreundinnen, später gingen wir gemeinsam in die Tanzschule, trafen uns ab und an zu gemeinsamen Unternehmungen, verliebten uns auch mal in den gleichen Jungen, dann fanden wir den richtigen Mann, heirateten, bekamen Kinder, hatten unsere Arbeit und der Kontakt verlor sich.“

Andrea Collins dagegen berichtet in ihrem Beitrag von einen bemerkenswerten Spruch an einer Häuserwand und wie eine traurige Nachricht sie aus ihrer Heimat erreicht.

Andrea Collins: Vergiss nicht zu lieben
„Inzwischen ragt der eiserne Überbau des neuen Bahnhofs am Ostkreuz in die Luft. Das Hochgerüst ist fast fertig. Es geht dem Spätsommer entgegen. Zuverlässig steht der alte schwarze Turm daneben – unter Denkmalschutz. Er bleibt. In seiner Beständigkeit wird er ein Wahrzeichen für das Ostkreuz sein. "Vergiss nicht zu lieben" steht unten an der Mauer des Restaurants Rotherstraße, Ecke Modersohn. Ich lese es gerne und habe es fotografiert. Ich habe viel vor.“

Wenn vor einem bekifften Touristen aus Spanien hier plötzlich das Phantom vom Ostkreuz steht, ist das meist auf das Wirken psychoaktiver Substanzen zurückzuführen. Oder treibt hier etwa der Geist von Paul Ogorzow sein Unwesen? Christian Gajewski schrieb über Paul Ogorzow, der von August 1939 bis Juli 1941 acht Morde, sechs Mordversuche sowie 31 Sittlichkeitsverbrechen verübte. Er, der im Bahnbetriebswerk Rummelsburg gearbeitet hatte, beging viele seiner Verbrechen in den Gartenkolonien in der Nähe seiner Arbeitsstelle und in der S-Bahn auf der Strecke von Ostkreuz nach Erkner.

Christian Gajewski: Sie nannten ihn Paulchen oder
Wie die Berliner Stadtbahn ihre Unschuld verlor

„Unser Paulchen wurde, soviel ist bekannt, am 25. Juli 1941 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Doch warum? Hörte er vielleicht Feindsender ab, war er Jude, Kommunist oder hat er als Widerstandskämpfer Flugblätter verteilt?“

Von einer totalen Überforderung der Angestellten eines Busunternehmens berichtet Helgard Gebhardt. Die wichtigste Tätigkeit dieser Angestellten besteht darin, neben dem Fahrer zu sitzen und aufzupassen, dass er nicht einschläft. Da kann einem ja angst und bange werden.

Helgard Gebhardt: Preiswert nach Paris
„Samstag 17 Uhr: Ich fahre mit dem Auto zum Büro des Busreisen-Billganbieters, für den ich als Stewardess arbeiten will. Die Probefahrt habe ich schon hinter mir. Nun soll es richtig losgehen.“

Die Erinnerungen von Bärbel Heger an ihre Lehrzeit am Ostkreuz möchte ich hier auch empfehlen. Hier erleidet sie einen Schock, als sie Zeugin eines tragischen Vorfalls wurde. Diese Kreuzung ist auch heute noch sehr gefährlich.

Bärbel Heger: Es ist lang her ...
„Meine Erinnerungen an den Bahnhof Ostkreuz beginnen im Jahre 1968. Zwei Mädchen von 16 Jahren aus dem Kreis Strausberg zogen aus in die "weite Welt". Im September 1968 begann nämlich unsere Lehre in der kaufmännischen       Berufsschule an der Marktstraße kurz hinter dem Berliner Bremsenwerk,  ̉̉Die Bremse ̉ genannt.“

Und zum Abschluss ein Zitat, nochmals entnommen der Erzählung von Andrea Collins: Vergiß nicht zu lieben aus der Anthologie „Ostkreuz“:

„Auf der Modersohnbrücke fahre ich an Jugendlichen vorbei. Sie sitzen dort und   sehen sich den urbanen Sonnenuntergang an. Heute mit Techno Musik aus dem Ghettoblaster. Es ist einer der Momente, für die ich Friedrichshain liebe.“