1981 | Ziellos durch die Straßen von Berlin
1986 | Ödnis in der Niederkirchnerstraße
1988 | Illegal in der Käthe-Niederkirchner-Straße

Um gleich zu Beginn einen Irrtum auszuräumen: es gibt in Berlin eine „Käthe-Niederkirchner- Straße“ im Prenzlauer Berg, in der ich mal gewohnt habe und eine „Niederkirchnerstraße“ in Kreuzberg. Letztgenannte hieß im Faschismus und danach bis 1951 Prinz-Albrecht-Straße. Auf dieser Kreuzberger Seite befand sich in der Zeit des Faschismus das Hauptquartier der Geheimen Staatspolizei (GESTAPO). Nach Kriegsende wurde die Ruine abgerissen und jahrelang war hier nur ein Platz, auf dem Autofahranfänger aus Westberlin ihre Übungsrunden drehten. Heute ist dort die Ausstellung „Topographie des Terrors“ zu sehen. Dies vorweg ist für das Verstehen meines Textes wichtig. Käthe Niederkirchner: nach ihr, die trotz Folter niemanden verriet, wurde die Prinz-Albrecht-Straße, in „Niederkirchnerstraße“ umbenannt.

1981 | Ziellos durch die Straßen von Berlin
Als ich 1981 nach Berlin kam gewöhnte ich es mir an, mich stundenlang mutterseelenallein ziellos durch die Straßen treiben zu lassen. Auf meinen Streifzügen wurde ich oft ganz überwältigt vom Zauber dieser Stadt und kam meist erst spät in der Nacht wieder im Wohnheim an. Zu einer dieser späten Abendstunden, ich gab mich gerade mal wieder dieser Lieblingsbeschäftigung hin, wurde ich auf einem riesigen, menschenleeren Platz plötzlich von einem unerklärlichen Angstgefühl befallen. Nicht weit entfernt von der Mauer, nur durch den Todesstreifen getrennt, lag Kreuzberg, was ich zu der Zeit allerdings nicht wußte. Ebenfalls keine Ahnung hatte ich davon, was sich hier früher abgespielt hatte. Aber ich spürte die unheimliche Aura, die von dem Ort ausging. Hier, in der Niederkirchnerstraße wo es jetzt wuselig zugeht wie auf dem Alexanderplatz, befand sich zu jener Zeit nur eine Brachfläche, die durch die Mauer in zwei Hälften geteilt wurde. Hier stand einmal ein Haus, vor dem alle Angst hatten. Hier sprangen Leute während der Vernehmungen aus den Fenstern. In den Gängen und Katakomben dieses Hauses verschwanden Menschen, die nie wieder auftauchten, jedenfalls nicht lebend. Es war keine Straße, durch die Berliner während des Faschismus gerne gingen. Die Straße hieß damals Prinz-Albrecht-Straße. Viele, nach denen bei uns in der DDR Straßen, Plätze, Betriebe und auch Jugendwerkhöfe benannt waren, machten mit diesem Haus schlechte Bekanntschaft.

Auf dem Straßenschild las ich nun den Namen einer Frau, über die ich bereits im Alter von zehn Jahren im langweiligen Ferienlager Prerow an der Ostsee ein Buch gelesen hatte. „Zeig mal her, was du da hast“ sagte meine Freundin zu mir. Sie hatte mich die ganze Zeit über im Ferienlager behandelt wie Luft. Aber wenn sie Bücher sah, konnte sie nicht widerstehen. Einträchtig saßen wir beide dann nebeneinander auf dem unteren Doppelstockbett und blätterten das Buch durch. Ich erzählte ihr von meiner Heldin, um die es in dem Buch ging, und sie hörte mir neugierig zu. Die Geschichte dieser Frau beginnt um die Jahrhundertwende irgendwann kurz nach 1900 mit der Ankunft ihrer Eltern in der Hauptstadt und ihrem Einzug in ein Hinterhaus eines Arbeiterbezirkes im Norden Berlins. Der Autor des Buches hatte Ärger bekommen, weil die Beschreibung seiner Heldin der Partei (SED) nicht heldenhaft genug war. Ihr Name war Käthe Niederkirchner.

1986 | Ödnis in der Niederkirchnerstraße
Hier in der Niederkirchnerstraße waren überall Grenzanlagen. Da hätte ich ja mal Mäuschen sein mögen, als die beiden Provinzjungs in dieser gottverlassenen Gegend herumirrten, wo sich vor Mauerfall „Fuchs und Hase eine Gute Nacht“ wünschten. Wenn die Jungs Pech gehabt hätten, wären sie vielleicht verdächtigt worden, in den Westen abhauen zu wollen und dann wegen geplanter Republikflucht noch auf den letzten Metern der DDR-Existenz verhaftet worden. Eigentlich suchten sie aber nur ihre Schwester, die mal wieder ausgerissen war. Jemand hatte ihnen einen Tipp gegeben in welcher Wohnung sie zu finden sei. Was die Brüder nicht wussten: es gibt zwei Straßen in Berlin, die sehr ähnlich heißen. In einer davon wohnte ich. Ihre Schwester war bei mir und sie suchten definitiv in der falschen Straße. So kehrten die Beiden unverrichteter Dinge wieder nach Hause zurück, ihr Schwesterchen blieb bei mir und freute sich über den Misserfolg ihrer Brüder („… ich habe ein Mädchen kennengelernt, das aus unser alten Heimat kommt. Kannst du sie bei Dir aufnehmen? Ich glaube, ich habe mich verliebt...“ hatte mich mein bester Kumpel gefragt). Später, als ich ihre Brüder auch kennenlernte, lachten wir noch oft darüber. Einer von den Beiden ist allerdings mittlerweile verstorben.

1988 | Illegal in der Käthe-Niederkirchner-Straße
1981 wusste ich noch nichts davon, dass diese Straße, in der ich später meine erste Wohnung bezog, nach ihr benannt worden war. Ich wußte ja noch nicht einmal, dass ich überhaupt mal in Berlin landen würde. Aber wenn ich es mir heute so überlege, bin ich vielleicht damals schon von dieser Stadt angefixt worden. Käthe Niederkirchner wuchs in ärmlichen Verhältnissen nicht weit entfernt von meiner Wohnung auf, in der ich zusammen mit der bereits erwähnten Ausreißerin nun auch Kohldampf schob. Ich besaß für die Unterkunft keinen Mietvertrag, sondern nur einen Ausbauvertrag und eigentlich wohnte ich dort illegal. Immer wenn ich Schritte auf der Treppe hörte, hatte ich Angst, dass die Polizei kommt. Aber es passierte nie was Bedrohliches. Hielt die Namensgeberin unserer Straße ihre Hand schützend über unser Heim? Ich vermute eher, es wird wohl die nette junge Frau in der kommunalen Wohnungsverwaltung gewesen sein, die uns in Ruhe ließ. Vielleicht sind wir auch einfach nur vergessen worden. Meine Freundin und ich blieben jedenfalls nicht lange allein in dieser Unterkunft. Nach und nach gesellten sich noch andere Ausreißer zu uns, die ebenfalls aus der Provinz nach Berlin geflüchtet waren. Die Wohnung betrachtete ich eher als Kommune und stellte sie allen Unbehausten zur Verfügung. Mein damaliges Vorbild waren die Kommunen im Stadtteil Haight Ashbury des San Franciscos der 60er Jahre. Von der Kommune 1 in Westberlin wußte ich noch nichts. Oft übernachteten mehr als zehn Leute in der Einraumwohnung (!) und ich hatte manchmal Mühe, selbst einen Platz zum Schlafen zu finden. Leider erhielt ich für meine Hilfsbereitschaft nicht die Anerkennung, die ich ersehnte. Für die meisten war das wohl bloß eine Durchgangsstation in ein vermutlich (klein)bürgerliches Leben. Ich habe heute kaum noch Kontakt zu Jemandem aus dieser Zeit. Aber ich bereue nichts. Meine Freundin, mit der ich nicht mehr in Verbindung bin, hat sich wohl damals in die Gegend verliebt und wohnt heute noch dort. Käthe Niederkirchner war übrigens eine Kommunistin. Da steckt das Wort Kommune ja schon mit drin.