Letztens habe ich mal mit Jemandem darüber geredet, dass ich, die im Mai Sechzig geworden bin, jetzt ja eigentlich die Gelegenheit gehabt hätte, das erste Mal nach Westberlin rüberzugehen. Die Mauer ist aber schon vor 33 Jahren gefallen. Da bin ich um ein einschneidendes Erlebnis gebracht worden, das meiner Oma noch vergönnt war. Meine Mutter dagegen war vor der Wende noch zu jung, um in den Westen reisen zu können.

Sie schlug vor: „Schreib doch etwas über deinen imaginären ersten Grenzübertritt, wie du ihn dir vorgestellt hättest, als Berlin noch geteilt war und du auf der östlichen Seite lebtest.“ Damit keine falschen Schlüsse aufkommen, da lebe ich auch immer noch, denn mit der Westseite konnte ich nie wirklich warmwerden.

Hier mein erfundener Bericht über meinen fiktiven Besuch in einem Westberlin des Jahres 2022, so wie er vielleicht abgelaufen wäre, wenn die Mauer nicht schon am 9. November 1989 gefallen wäre.

„Follow the Moskva
Down to Gorky Park
Listening to the wind of change“,

singen die Scorpions. 

„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag“, sagen meine neuen Freunde, und wir stoßen abends auf der Bank in dem kleinen Park am Schlesischen Tor mit Hansapils an.

Wieso feiere ich meinen Geburtstag ausgerechnet in diesem abgerockten Park in Kreuzberg, nahe der Oberbaumbrücke, mit Leuten, die ich gar nicht kenne, und wo befindet sich eigentlich die Quelle, aus der die laute Musik kommt? Man sieht ja keine Boxen.

Wurstbude

Am Morgen dieses schönen Maientages, im Jahre 2022, schlenderte ich frohgemut die Warschauer Straße runter in Richtung Grenzübergang Oberbaumbrücke. Mir entgegen kamen die Arbeiter von Narva, die die Nachtschicht hinter sich hatten und sich auf ihr Bett freuten. Gemeinsam stärkten wir uns an der Bratwurstbude, die von Familie Hahnfeld schon seit mehreren Generationen geführt wird und die sich im S- Bahngebäude gleich rechts neben dem Eingang befindet.

Rückblende: In Wirklichkeit sind die Wurstbude und auch Narva schon seit langem Geschichte. „Einmal Bratwurst mit Brot, macht fünfundachtzig Pfennige.“ sagt der Mann, bei dem es sich vielleicht um Herrn Hahnfeld persönlich handelt und reicht mir den Pappteller aus dem Fenster raus. „Was ist mit ihnen los? Sie haben so einen vergnügten Gesichtsausdruck und das am frühen Morgen.“, wundert er sich. „Ich bin heute Sechzig geworden und gehe das erste Mal in den Westen rüber.“ erwidere ich. Die Leute hinter mir schauen mich neidisch an.

„Ihr Alter sieht man ihnen gar nicht an. Ich war auch schon drüben, zu Schwiegermutters Achtzigsten, in Neukölln, auch über den Grenzübergang Oberbaumbrücke. Meine Tochter durfte aber nicht mitkommen.“ erwidert er.

Ich fühle mich geschmeichelt, dass er mich für jünger hält, als ich bin und überlege: „Nehme ich noch eine Wurst? Wer weiß, ob ich mir im Westen etwas zu essen leisten kann?“.

Ich bin immer noch ein wenig geschafft von gestern, wo ich mit Kollegen meinen Abschied gefeiert habe, da ich ab dem heutigen Tag, meinem Sechzigsten Geburtstag, Rente beziehe, wie alle Frauen im Osten. Die Männer bekommen bei uns erst mit 65 Rente.

Am Grenzübergang an der Oberbaumbrücke und auch in der Volksbankfiliale am Schlesischen Tor, wo ich mir meine 100 Euro Begrüßungsgeld abhole, gibt es keine Probleme.

Rückblende: Ich muss ehrlicherweise eingestehen, dass ich da nicht mit Insiderwissen dienen kann, vielleicht war der Grenzübertritt ja gar nicht so unkompliziert, da ich vor dem Mauerfall, im November 89, noch nie eine Grenzanlage passiert habe.
An diesem neunten November, abends, haben uns die Grenzposten nur durchgewinkt. Am nächsten Morgen standen wir zu Hunderten in einer Schlange vor einer Volksbankfiliale. Nach dem Empfang des Begrüßungsgeldes, das damals 100 DM betrug, habe ich von den Bankbeamten unkompliziert einen Stempel in den Ausweis bekommen.

Kaffee und Tunnel

Zurück zu mir ins Jahr 2022
An einem Bäckerladen an der Skalitzer Straße in Kreuzberg steht groß dran: „Heute Latte Macciato für einen Euro im Angebot.“ Ich werde neugierig, was das ist. Interessiert schaue ich zu, wie der Verkäufer mit der riesigen, chromblitzenden Maschine hantiert. Sowas habe ich noch nie gesehen. Dabei kommen wir ins Gespräch.
Ich erzähle ihm, dass ich aus Friedrichshain komme, heute Sechzig geworden bin und das erste Mal Westberlin besuche. „Kennst du die Boxhagener Straße?“, fragt er mich. „Dort ist meine Oma aufgewachsen.
Sie war die letzte, denn die nach ihr sind erwischt worden, die noch durch den Fluchttunnel gekrochen ist.
In Ostberlin haben sie im kürzeren Teil der Adalbertstraße in einem Keller zu graben angefangen.
Die Anderen haben sich ihnen aus dem Westen entgegengeschaufelt. Sie waren als Straßenbauarbeiter getarnt.
Zum Schluß haben sich die beiden Tunnel in der Mitte vereinigt.“

Rückblende: Das ist eine erfundene Geschichte, aber 1962 wurde vom Bethaniendamm 57, im Westen, nahe der Adalbertstraße, wirklich ein Tunnel unter der Mauer in den Osten durchgegraben. Leider wurde er entdeckt, und keiner konnte durch ihn fliehen.

„Natürlich kenne ich die Boxhagener.“, antworte ich.

Er erwidert: „Weißt du was, den Latte kannst du umsonst haben. Und ich lege noch ein Croissant obendrauf. Von meiner Ostverwandtschaft weiß ich ja, dass ihr nur hundert Euro Begrüßungsgeld bekommt. Nimmst du den Latte mit Hafermilch?“ „Ich wusste noch gar nicht, dass man aus Hafer Milch machen kann?“ sage ich. „Das ist für Veganer. Sie essen nichts, was vom Tier stammt und tragen auch keine Lederschuhe. Ich selber bin nur Vegetarier.“ erklärt er mir.

Von Vegetariern hatte ich schon gehört, aber mir war erst einer von dieser Spezies über den Weg gelaufen.

Was haben wir bei einer Grillparty in den Achtzigern über den Freund einer Freundin gelacht, der noch nicht mal den Nudelsalat essen konnte, weil da Wurst drin war, von Steaks und Grillwürsten ganz zu schweigen.

Er musste sich mit trockenem Brot begnügen und war sauer. „Mach doch einfach die Wurst aus dem Salat raus.“, schlug ich vor. „Das geht nicht, weil der Salat schon mit Fleisch in Berührung gekommen ist.“ erwiderte er. „Da wird ja der Hund in der Pfanne verrückt.“, dachte ich. Und die Veganer legen wohl noch eine Schippe drauf.

Rückblende: Echte Vegetarier lernte ich eigentlich erst nach Mauerfall durch die Hausbesetzer in Friedrichshain kennen. Die Meisten dort lebten ja vegetarisch. Die vegetarischen Gerichte, die es in der Volksküche gab, schmeckten aber wider Erwarten immer sehr gut.

Er gibt mir den Pappbecher mit dem Kaffee rüber. „Was machen die Wessis bloß mit den vielen Pappbechern? Die müssen ja ein Riesenmüllproblem haben.“, denke ich.

Neugierig tauche ich meine Lippen in den ungewohnten Milchschaum und beiße zum ersten Mal in ein Croissant. „Das schmeckt ja genial.“, sage ich dem jungen Mann

Wenn ich gut bei Kasse bin, kaufe ich im Konsum nebenan immer ein Viertelpfund Kaffeebohnen und mahle sie in der Mühle, die bei uns in Ostberlin in jedem Lebensmittelladen steht und die sehr grob mahlt.

Das Ganze gieße ich dann mit kochendem Wasser auf, warte bis sich die Stückchen, die oben schwimmen, abgesenkt haben und trinke dann den Kaffee mit viel Kaffesahne und Zucker. Das nennt sich türkische Art, alle bei uns trinken es. Meine Mutter konnte sich auch nach der Wende nie an Filterkaffee gewöhnen.

Aber in meinem Freundeskreis bevorzugen alleTee, da er viel billiger ist. Kaffee ist sehr teuer bei uns.

Der Mann aus dem Bäckerladen erzählt mir, dass er gerade eine Mieterhöhung bekommen hat, weil die Energiepreise wegen dem Ukrainekrieg gestiegen sind und jetzt für seine Einraumwohnung 500 Euro bezahlt. „Aber das ist trotzdem noch preiswert.“, findet er. „Ich bezahle 28 DDR Mark, aber ich habe Außentoilette und Ofenheizung.“ sage ich. „Wieviel Quadratmeter hast Du denn?“ fragt er mich.

Ehrlich gesagt, dass weiß ich gar nicht. Erst seit der Wende ist es üblich geworden, dass jeder weiß, wieviel Quadratmeter seine Wohnung hat. „Wow, der Westkaffee haut rein.“ Irgendwie merke ich doch, dass ich Sechzig bin. „Trinkst du noch einen Latte? Normalerweise kostet er drei Euro vierzig.“ „Vielen Dank“, sage ich, „Ich muss auf meinen Blutdruck achten.

Aber das nächste Mal, wenn ich über die Grenze gehe, schaue ich wieder rein.“

Kreuzberg

In den Westteil Berlins bin ich nie allzu gerne gegangen. Eine Ausnahme sind die dreieinhalb Jahre, in denen mein Freund in Charlottenburg gelebt hat. Genausogern wie ich nach Charlottenburg gefahren bin, genauso ungern fahre ich nach Kreuzberg.

Mir hat in Charlottenburg alles gefallen: der gemähte Rasen hinter dem Haus, die sauberen Straßen, die Leute sehen alle nicht besonders gefährlich aus. In mir scheint ein Hang zum Bürgerlichen zu liegen.

Dagegen, wenn ich über die Oberbaumbrücke rüber gehe, halte ich meine Tasche immer gleich fester. Hätte ich da mal eher daran gedacht. Leider bin ich Anfang der Neunziger im U-Bahnhof Kottbusser Tor beklaut worden.

Das ist mir in den fast zehn Jahren, die ich vorher in Ostberlin gelebt hatte, nie passiert. Das schlimmste waren nicht mal die zweihundert Mark, sondern dass mein Wohnungsschlüssel mit dabei war.

So musste ich meine eigene Tür auftreten und auch noch einige Zeit mit der offenen Tür leben, bis ein Kumpel sich erbarmte. Bevor er endlich das neue Schloss einbaute, wachte ich einmal morgens auf, weil zwei Polizisten vor meinem Bett standen. Sie waren durch die offene Tür reingekommen und brachten mir meinen Ausweis, mein leeres Portemonnaie und meine leider nutzlosen Schlüssel wieder.

Beide waren sehr nett. Im Osten wäre es unvorstellbar gewesen, dass die Polizei dir deine Schlüssel wiederbringt. Demokratie lag in der Luft. 

Eine Kollegin, die mal in der Nähe vom Hermannplatz eine Maßnahme machen sollte, kehrte kurz vor dem Ziel auf dem Absatz um, weil Kreuzberg in ihr eine Panikattacke auslöste. Ihr war einfach alles zu fremd. Daraufhin wurde die Leistung fast völlig gekürzt, was sie in Kauf nahm. Man muss aber wissen, dass sie eine taffe Berlinerin war, die fünf Kinder alleine großzogen hat, und trotzdem war die Gegend ihr zu hart.

Geldsorgen

Aber kommen wir zu meinem imaginären ersten Grenzübertritt zurück. An welchem Grenzübergang hätte ich eigentlich melden müssen? War da nicht irgendetwas mit Tränenpalast? Das hat mich früher nie interessiert, weil ich keine Verwandten und Bekannten im Westen hatte und zu DDR Zeiten keinerlei Chancen sah, nach Westberlin zu reisen.

Oder konnte man als Normalsterblicher auch den Grenzübertritt an der Oberbaumbrücke nutzen? Das wäre ja nicht weit von mir entfernt gewesen. Oder war das bloß ein Übergang für Diplomaten und Militärs?

Wichtig ist auch die Geldfrage. Gab es die 100 DM bzw. Euro Begrüßungsgeld eigentlich jedes Jahr, oder bloß beim ersten Mal? Und gab es den Zwangsumtausch, über den die Wessis immer solche Krokodilstränen vergossen haben, weil sie ihr heißgeliebtes Westgeld hergeben mussten, eigentlich auch umgekehrt?

Konnte ein Ossi eigentlich auch 25 Mark der DDR in dieselbe Summe in D Mark umtauschen? Ich glaube eher nicht. Ansonsten hätte mir als Westberlinbesucherin das Begrüßungsgeld für sämtliche Besuche auf der anderen Seite reichen müssen.

Das könnte eng werden.

Vielleicht hätte ich mir, als flotte Ossibraut in den besten Jahren, ja auch einen betuchten silberhaarigen Westberliner angelacht, den das Exotische an mir reizt. Immerhin spreche ich Russisch und kann alle Arbeiterkampflieder auswendig.

Dann hätte ich Gleiches mit Gleichem vergelten können. Noch mal Vielen Dank an A aus Kreuzberg dafür, dass ihr uns hier im Osten die Männer ausgespannt habt. Das ist natürlich nicht erstgemeint, aber die beste Geschichte von A, die vielleicht auch die beste Geschichte auf unserer Webseite ist, handelt von ihrer kurzen Beziehung mit einem Ostpunk.

Sehr zu empfehlen. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass er unsere Wandelseite liest und es zu einem Wiedersehen kommt.

Deutsche Küche

Berliner, die vor 89 auf der anderen Seite der Mauer lebten, beklagten sich immer sehr, darüber, dass sie damals bei Besuchen bei uns mit ihrem Ostgeld nichts anzufangen wussten.

In Vorwendezeiten hätte ich da einen guten Tipp für sie parat gehabt. Ich, an ihrer Stelle, wäre mit der DDR Mark, die sie umtauschen mussten, schnurstracks in die Selbstbedienungsgaststätte unten im Palasthotel, das sich gegenüber dem Alex befand, marschiert. Das Palasthotel war übrigens an der Stelle, wo gestern, am 16.12.22, gerade das Aquarium geplatzt ist.

Man aß dort wie Herrgott in Frankreich. Es standen zwar immer ein paar Leute vor der Tür, aber da sich in einer Selbstbedienungsgaststätte keiner lange aufhielt, hatte man bald einen Platz und versank wohlig in den weichen Ledersitzen. Das Ambiente war sehr gepflegt. Alles war schön: die Möbel, das Geschirr, das Besteck. Das Essen, das man sich an einem Büffett selber holte, war nicht billig, aber traumhaft.

Dort wurde auf deutsche Küche gesetzt. Das Angebot war nicht umfangreich, aber hatte es in sich. Der Rinder- und der Schweineschmorbraten schmeckte wie bei meiner Oma, und es gab auch immer ein Eintopfgericht.

Die Schüsseln mit Beilagen musste man sich gesondert auswählen. Am teuersten war die Champignonsoße, aber bei uns waren Champignons ja auch Mangelware.

Über jedes Schüsselchen mit Pellkartoffeln strich ein Mitarbeiter extra noch etwas Öl mit einem Pinsel. Das werde ich nie vergessen. Esskultur auf hohem Niveau. So was sah ich das erste mal. Und endlich mal waren auch andere Säfte im Angebot als immer nur der vermaledeite Apfelsaft. Besonders liebte ich den Ananassaft, den man sonst nirgendwo bekam.

In einem Glasschrank standen herrliche Cremes, leider sehr teuer, die im Osten niemand kannte.

Selbst in finanziell schlechten Zeiten leistete ich mir dort ab und zu mal, wenn meine Lebensgeister der Aufmunterung bedurften, ein Mittagessen.

Als ich kurz nach der Wende einmal am Palasthotel vorbeiging, bemerkte ich erstaunt, dass die Selbstbedienungsgaststätte, die immer proppenvoll gewesen war, nicht mehr existierte. Stattdessen war dort eine Bankfiliale.

Scherben und Shellis

Wofür würde ich das Begrüßungsgeld eigentlich ausgegeben? Wenn in den Jahren vor 89 die Gelegenheit dagewesen wäre, in den Westen zu fahren, hätte ich mir ohne zu zögern für meine 100 DM einen Shellparka, eine Levis 501 und für den Rest des Geldes, viel wird es nicht mehr gewesen sein, Ton Steine Scherben Platten gekauft.

Jetzt mit Sechzig bin ich dafür schon zu alt, für die Ton Steine Scherben natürlich nicht. Und in der Realität ist mit dem Verschwinden der DDR auch unsere Bluesszene den Bach runter gegangen. Unsere Markenzeichen, woran wir uns auf der Straße erkannten, waren Levis, Thälmannjacken und Shellis.

Die Parkas der GIs aus dem Vietnamkrieg, von denen die interessanten, langhaarigen Jungs umflattert wurden, nach denen ich mir die Augen verrenkte und die eine Atmosphäre von Freiheit verströmten, sieht man nur noch selten im Straßenbild. Diese grünen Ungetüme, die um so genialer aussahen, je älter und zerfetzter sie waren, trägt heute fast keiner mehr.

Letztens habe ich auf einem Konzert mal wieder einen mit Matte und Shellparka gesehen. Er war sogar jünger als ich und wirkte, als wäre er geradewegs dem Freygangopenair* in Ketzin entsprungen oder Steinbrücken im Harz, wo von Mitte der Achtziger bis noch in die Neunziger zu Pfingsten immer ein legendäres Festival stattfand.

Früher, in den Jahren vor Mauerfall, haben damit viele ein lukratives Geschäft gemacht und Jeans, Shellis und Schallplatten hier im Osten für den vielfachen Preis verkauft. Ein Kumpel, der Invalidenrenter war, und deshalb in den Westen fahren konnte, hat sich mit so einem Handel seine magere Rente aufgebessert.

Für eine LP, die im Westen nen Zehner kostete, wollten sie bei uns, natürlich unter der Hand, 120 Mark der DDR haben, aber dafür ist jede Schallplatte tausende Male auf Kassette überspielt worden. Wir waren ja froh, dass wir die Musik endlich in der Hand hielten.

Durch die Schwierigkeiten der Beschaffung wurde für uns die Musik noch wertvoller.

Für eine echte Jeans musste man mindestens 300 Mark hinlegen und für einen gebrauchten Shellparka hat ein Kumpel mal 800 Mark bezahlt. Aber er war glücklich, alle beneideten ihn und seine Chancen bei Frauen vervielfachten sich. Damit man den Vergleich hat: Eine Bürokraft verdiente damals um die 400 DDR Mark.

Und eigentlich wären es heute im Jahre 2022 ja auch CDs gewesen und keine Schallplatten. Ich hoffe, dass die CD Technologie, die ja kurz vor der Wende entwickelt wurde und die jetzt langsam durch MP3 und Streaming abgelöst wird, auch schon in der DDR angekommen wäre.

Rückblende: Als ich 1989 das erste mal einen Plattenladen in Kreuzberg betrat, stand da noch alles voller Schallplatten.

Das Einfachste, um heute, im Jahre 2022, die Musik über die Grenze zu „schmuggeln“ wäre eine Mikro SD Card gewesen. Die hätte keine Zollbeamten entdeckt. Aber man benötigt natürlich ein Abspielgerät und etwas zum Kopieren. Aber findige Ostberliner hätten sich da schon etwas einfallen lassen. Man hatte ja Verwandtschaft auf der anderen Seite der Mauer.

Linie 1

Auf alle Fälle wäre ich morgens an meinem Sechzigsten Geburtstag mit meiner Thermosflasche und mit meiner Brotdose über die Grenze an der Oberbaumbrücke „rübergemacht“, natürlich offiziell. Dann hätte ich im Böcklerpark oder am Halleschen Ufer sitzen und die Vögel mit Zwiebelleberwurstbroten füttern können, die billigste Leberwurst bei uns, von der hundert Gramm bloß 48 Pfennig gekostet haben. Als jemand, der chronisch pleite war, hatte man die Preise im Kopf.

Im Supermarkt am Kotti, kaufe ich mir eine einzige Hanutawaffel, die ich aus der Werbung kenne und starre bewundernd die ganzen bunten Lebensmittel an.

Rückblende: In denselben Markt, der damals noch Kaiser´s hieß, bin ich auch bei meinem realen ersten Besuch in Kreuzberg, am Tag nach der Grenzöffnung, am 10. November 1989, als erstes gegangen, nachdem ich mein Begrüßungsgeld von der Bank abgeholt hatte.

Ich schlendere durch die Kaufhäuser, sehnsüchtig die unerreichbaren Dinge betrachtend und bin den ganzen Tag, um Geld zu sparen, auf Schusters Rappen unterwegs. Mein Begrüßungsgeld muss ja noch lange reichen.

Wahrscheinlich würde ich die Linie 1 entlanglaufen, weil ich den gleichnamigen Film aus dem Kino kannte und weil man so auf geradem Wege zum KDW kommt, einer Legende, über die meine Mutter schon geschwärmt hat.

Rückblende: Genau diesen Weg bin ich in den ersten Monaten, nach der Öffnung der Grenze, oft zu Fuß gegangen, um Westberlin kennenzulernen. Ich kannte mich nicht aus, aber wenn man immer der U- Bahn hinterherging, konnte man sich nicht verlaufen.

Handy und Pizzabäcker

Abends wäre ich wahrscheinlich erschöpft auf einer Bank gelandet, wo schon ein paar Männer mit Bier gesessen hätten. 

Wir kommen ins Gespräch, und ich erzähle ihnen, dass heute mein sechzigster Geburtstag ist. Plötzlich klingelt es. Was ist das? Jemand holt eine flache Scheibe, die unten aus Metall besteht und oben aus etwas Ähnlichem wie Glas, aus der Hosentasche. Diese merkwürdigen Gegenstände habe ich schon oft bei westlichen Touristen gesehen, die darüber schimpften, dass sie im Osten keinen Empfang hatten. Auch Internet haben wir bei uns nicht.

Hier, in Westberlin, bin ich den ganzen Tag ständig mit Leuten auf dem Bürgersteig zusammengeprallt, die alles um sich herum vergessen zu haben schienen und im Laufen hektisch in diese kleinen Dinger tippten. Auch traf ich viele, die mit sich selbst redeten und dachte mitleidig: „Mann, die hat es aber schwer erwischt.“

Sie kamen mir wie Autisten vor. Jetzt wurde mir klar, dass sie in ein tragbares Mikro gesprochen hatten.

Wenn ich in Ostberlin telefonieren will, muss ich immer noch zum Automaten gehen, der draußen an unserem Haus angebracht ist. „Möchtest du auch mal telefonieren?“ fragt mein Nachbar großzügig. Ich verneine, da ich niemanden kenne, der Telefon hat. „Als Geburtstagsgeschenk darfst du dir einen Song wünschen.“ „Da nehme ich doch glatt „Wind of change von den Scorpions.“, erwiedere ich.

Er spricht in die flache Scheibe auf seiner Hand, zu der alle Handy sagen: „Siri, spiel „Wind of change“ ab.“ „Wer ist eigentlich Siri?“ frage ich mich.

Gleich darauf erklingen die vertrauten Töne. Ich staune, wie laut die Musik ist. Er zeigt mir einen winzig kleinen Lautsprecher, der aber einen gewaltigen Klang hat. „Das nennt sich Streaming.“, erklärt mein Bekannter mir. „Mit diesem kleinen Handy kannst du die Musik der ganzen Welt hören.

Aber du musst natürlich ein Guthaben besitzen.“

Die nächste Büchse Bier lehne ich ab. „So dicke habt ihr das doch auch nicht.“ „Lass man Mädel, ich habe heute gerade Stütze gekriegt,“ sagt der Mann, der neben mir sitzt, gutmütig. Mit Erstaunen höre ich, die gerade als „Mädel“ bezeichnet wurde, dass er ein sogenanntes Hartz 4 bezieht.

Ich habe darüber schon etwas im „Schwarzen Kanal“ gehört, wo Karl Eduard von Schnitzler uns immer erzählt, wie schlecht es den Leuten im Westen geht und wie gut wir es im Osten haben. „Kommst du mit zum Geldautomaten? Dann können wir noch ein neues Sixpack holen.“

Ich stehe neben ihm am Geldautomaten und schaue bewundernd zu, wie er eine Karte in den Schlitz schiebt und Geld rausholt. Soweit ist die Technologie bei uns im Osten noch nicht. Wir heben unser Geld immer noch am Bankschalter ab.

Rückblende: Genauso war es auch im Januar 1990, als ich im Pink Panther in Kreuzberg einen rastalockigen Szenetyp kennenlernte und der mich zum Geldautomaten mitnahm. Ich, die noch nicht mal ein Konto besaß, sondern ihren Lohn immer bar in der Lohnbuchhaltung ausgezahlt bekam, staunte über diese Technik.

Er fragt mich: „Weißt du eigentlich, was Pizza ist?“ fragt er mich. Da muss ich passen, bei uns in Ostberlin kennen wir keine Pizza. „Was willst du: Funghi, Salami, Spinachi, Margaritha? Er kauft eine Pizza Funghi für uns im Imbiss am Schlesischen Tor.

Eine Bratwurst oder auch eine Bockwurst wäre mir lieber gewesen, aber ich finde in Kreuzberg leider keine Imbissbude, aus der der vertraute Geruch nach Bratwürsten kommt, die auf der anderen Seite der Mauer an jeder Straßenecke angeboten werden. Übrigens, die Bratwurstbuden sind nach der Wende bei uns fast ganz verschwunden.

Ich unterhalte mich mit dem Pizzabäcker und frage: „Aus welcher Region in Italien kommst du?“ Er erzählt, dass er gar kein Italiener ist, sondern Türke.

Haschischschwaden und der Geruch nach Veränderung

Wir holen auch noch Bier und setzen uns wieder zu den Anderen auf die Bank. Einer dreht eine dicke Zigarette und zündet sie an. „Warum riecht es hier so merkwürdig?“ will ich wissen. Dieser besondere Geruch ist mir schon den ganzen Tag auf der Straße aufgefallen. „Das ist Haschisch. Möchtest du auch mal ziehen?“ Ich lehne dankend ab. Das ist mir dann doch zu heiß.

Über dieses Haschisch hatte ich schon etwas in „Wir – Die Kinder vom Bahnhof Zoo“ gelesen. Bei einer Party im Prenzlauer Berg in den Achtzigern sah ich das Buch, von dem ich schon gehört hatte, in einer Ecke rumliegen.

Ich ergriff die einmalige Gelegenheit beim Schopfe und las es in einer Nacht durch. Im Laden konnte man das Buch ja nicht kaufen. Auf der Rückseite waren die biografischen Daten der Autorin. Es verblüffte mich, dass Christiane Felscherinow genauso alt ist wie ich, sogar fast auf den Tag genau. Das könnte die Erklärung dafür sein, dass vieles, was sie beschreibt, mir merkwürdig vertraut vorkommt und ich über viele Sachen ähnlich denke, obwohl sie in der Gropiusstadt aufgewachsen ist und ich in einem Dorf in Mecklenburg.

Vielleicht bin ich ja heute an ihr vorbeigelaufen.

Rückblende: Ich habe die Wirkung von Haschisch das erste Mal erlebt, als ein Kumpel Anfang Dezember 1989, ein paar Tage nach Mauerfall, in Kreuzberg auf der Straße ein paar Hausbesetzer kennenlernte.
Sie luden uns ein, sie zu besuchen, aber wir sollten Kohlen mitbringen.
Das besetzte Haus war in der Nähe vom Schlesischen Tor. Man rauchte Eimer und mein Freund, ein Punk, wollte sich nicht lumpen lassen. Mutig nahm er einen tiefen Zug und fiel um wie ein Stein.
Ich zerrte ihn auf eine Matratze rauf und wickelte ihn in Decken ein, da ich nicht wollte, dass er sich erkältet, denn wir hatten Dezember, und der Raum war eiskalt. Mitten in der Nacht kam er wieder zu sich, ergriff die Gelegenheit beim Schopf und hörte die ganze Nacht verzückt die Punkplatten, von denen er immer geträumt hatte, die dort kistenweise rumstanden und die es bei uns nicht gab.
Er, der total musikverrückt war, fühlte sich wie im Paradies. Die Anderen wollten eigentlich schlafen, aber sie störten ihn nicht, weil sie sahen, wie begeistert er von den Schallplatten war.

Übrigens, Jemand, der aus dem Westen kommt, hatte mal gefragt, welche Gerüche bei uns im Osten hinzugekommen sind und welche verlorengegangen sind durch die Wende. Auf der Verliererseite steht der Duft nach meiner heißgeliebten Bratwurst, die ich schmerzlich vermisse, auf der Gewinnerseite die Haschischschwaden, die einem heute überall in die Nase stechen.

Mit einer geschenkten Flasche Sangria in der Hand, übrigens die mit dem dekorativen Strohmanteldesign, die danach noch jahrelang, auf dem Fensterbrett stehend, den Glanzpunkt meiner Küche bildet und um die mich alle beneideten, gehe ich abends über den Grenzübergang Oberbaumbrücke wieder nach Friedrichshain zurück und summe dabei:

„The future's in the air, I can smell it everywhere
I'm blowing with the wind of change“.

*bekannte Ostberliner Band