Ravioli von den Maltesern, Gurkenwasser am Mehringdamm, die Weiße von Rittersport, dicke Geldbündel

Der 9. November 1989 traf mich bei bester Laune an, obwohl ich mich im eigentlich traurigen Zustand der Obdachlosigkeit (nicht so richtig) und Arbeitslosigkeit befand. Das sollte sich zum Glück alles bald zum Besseren wenden.Mein Freund und ich wohnten mit Kumpels zusammen in der Wohnung eines Freundes in der Boxhagener Straße. Er weilte währenddessen in Hamburg, da er als Frührentner schon vor der Wende in den Westen fahren konnte. Wir hofften, dass er dableibt und wir seine Wohnung übernehmen können.

Unseren Lebensunterhalt bestritten wir als Erntehelfer bei der Rosenkohlernte in Lindenberg in der Nähe von Weißensee. Ich habe immer noch das Bild vor Augen, wie einige von den anderen Erntehelfern bei Temperaturen weit unter Null mitten im Feld liegen und betrunken auf einem Sack Rosenkohl schlafen.

Der erste Grenzübertritt erfolgte noch in der Nacht der Mauer-Öffnung in Kreuzberg. Freundliche Westberliner luden uns in einen türkischen Imbiss ein. Ich lernte Anisschnaps und türkische Linsensuppe kennen.

Es war ein Segen, dass der Malteser Hilfsdienst in Kreuzberg aus Zelten heraus Ravioli in Plastikschalen ausgegeben hat, denn bei uns war Schmalhans Küchenmeister.

Dosenravioli sollen ja auch das Grundnahrungsmittel für arme Studenten sein.

Außerdem wurden aus LKWs heraus Tüten mit Kaffee und Westschokolade verteilt.

Ich erwischte leider nur eine Tüte mit 5 bitteren Sarotti-Schokoladen, wovon unsere Kommune in der Boxhagener eine Weile lebte. Freunde in der Winsstraße im Prenzlauer Berg hatten dagegen nur eine einzige Tafel Westschokolade abbekommen dafür aber ein Pfund Kaffee, womit wir uns den Koffeinkick gaben. Kaffee war im Osten ja sauteuer.

Gleich am nächsten Morgen nach Mauerfall sprach sich das unglaubliche Gerücht rum, dass jeder DDR-Bürger gegen Vorlage seines Personalausweises 100 Deutsche Mark als Begrüßungsgeld erhält. Das erste Westgeld setzen wir in Bierbüchsen und in diese Riesenrotweinflaschen um. Ich glaube sie fassen 3 Liter und kosten fast nichts.

Das angenehme Geräusch, das eine Bierbüchse beim Öffnen machte, hörte sich in unseren Ohren nach Freiheit an.

Für das restliche Begrüßungsgeld erwarb ich auf einem Flohmarkt in Kreuzberg stolz eine Lederjacke, die ich noch lange hatte.

Übrigens vor gar nicht so langer Zeit habe ich jemanden aus unser damaligen Chaostruppe bei Lidl in der Boxhagener getroffen. Es war kurz bevor, dort Ende März 2020 dicht gemacht wurde. Ich habe ihn eigentlich nur an der Stimme wiedererkannt.

Nach einer Weile stellte ich fest, dass ich mich als die einzige Frau in der Männergemeinschaft in der Boxhagener Straße wohl nicht halten konnte.

Ein hilfsbereiter Kumpel gab mir einen Schlüssel für eine verlassene Wohnung in der Jessnerstraße, deren Besitzer bei seiner Freundin wohnte und wo ich auch den Jahreswechsel 89/90 erlebte.

Ich hörte auf dem Kofferradio, meinem einzigen Besitz, Nachts oder Spätabends, die Gespräche am Runden Tisch. Sie erschienen mir utopisch und nicht erstgemeint, und ich sollte leider rechtbehalten.

Einmal in dieser Zeit in der Jessnerstraße sah es finanziell wirklich sehr, sehr trübe bei mir aus. Da kam mir das Rosenkohlfeld in den Sinn.
So brach ich spätabends mit der Straßenbahn nach Lindenberg auf und pflückte mutterseelenallein in der kalten Winternacht Rosenkohl auf dem Feld.
So gab es ein paar Tage Rosenkohl pur in mehreren Versionen, wobei es meist bloß die eine war, in Salzwasser gekocht, wobei das Salz auch schon zur Neige ging. Also nichts da, von wegen mit Käse überbacken oder in Sahnesoße geschmort.

Jeder, der kam, wurde mit Rosenkohl bewirtet. Und die nahrhaften grünen Knollen haben mich wirklich gerettet.

Im Briefkasten lag ein Heft von der Berlinale. In Ermangelung anderer Zeitschriften, für die mir die D-Mark oder überhaupt die Mark fehlten, las ich es mir gründlich durch. Alle Filme waren mit Inhaltsangabe aufgeführt. Aus Anlass des Mauerfalls wurden diesmal die Berlinale-Filme auch im Kino International in der Karl-Marx-Allee gezeigt.

Mich interessierte besonders der finnische Film „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“. Aber leider hatten wir noch kein Westgeld bzw. überhaupt kein Geld.

Die Berlinale war mir ein Begriff, seit „Solo Sunny“ den Silbernen Bären gewonnen hat. Bis heute bin ich aber immer noch auf keiner Veranstaltung gewesen. Der finnische Film von Akis Kaurismäki, den ich später mal im Fernsehen gesehen habe, war übrigens wirklich so gut wie in dem Berlinale-Heft beschrieben. Es geht um eine junge Fabrikarbeiterin, die sich am Zahltag ein Kleid kauft, dass eigentlich außerhalb ihrer finanziellen Möglichkeiten liegt. In einer Bar lernt sie einen Managertypen kennen. Als der nach einer Weile bemerkt, aus welchem Milieu sie stammt, lässt er sie trotz ihrer Schwangerschaft im Stich. Aber sie weiß sich zu rächen.

Finanziell hielt ich mich über Wasser, indem ich ein paarmal Blutplasma in Westberlin spendete und das Westgeld am Bahnhof Zoo wieder in Ostgeld tauschte. Die Lebensmittel im Osten waren ja immer noch billiger, aber natürlich konnte ich mir nicht verkneifen mir „Die Weiße“ von Rittersport zu gönnen. Diese Schokolade, die für uns den verlockenden Geschmack des Westens hatte, kannte ich aus den Päckchen, die ihre Hamburger Freundin an Weihnachten, zum Geburtstag oder an Ostern an meine Mutter schickte.

Wenn man in die Supermärkte in Westberlin ging, konnte man schon ins Grübeln kommen. Bei Reichelt am Zoo sah ich einen ganzen Gang nur mit Nudeln und ein Riesenregal Ketchup. Im Osten gab es nur eine Sorte Spaghetti und wenn man Ketchup kaufen wollte, musste man sich auf eine lange Odyssee von Gemüseladen zu Gemüseladen einstellen.“

Am besten von allen Supermärkten gefiel mir aber Ulrich in der Nähe vom Büro von meiner Verleihfirma in Charlottenburg. Wenn ich Abschlag geholt hatte und mein Magen knurrte, wollte ich nicht noch sonst wohin fahren. Das Angebot und die Verkaufskultur hauten mich als Ossi um, obwohl alles teurer war als woanders.

Als ich einmal gerade mit Tüten, prallgefüllt mit Schleckereien, von Ulrich kam, begegnete ich meinem Kumpel und seiner Freundin. Beide standen gerade ziemlich auf dem Schlauch, weshalb wir zum Mehringdamm fuhren und erstmal ein Straßenpicknick veranstalteten.
Zum Mehringdamm fuhren wir extra, weil mein Kumpel dort einen Supermarkt kannte, der eine Biersorte namens Hansapils verkaufte. Meine Freundin bezeichnete es als Gurkenwasser, aber es sollte wohl das billigste Bier sein und wurde besonders von Punks geschätzt. Naja, Hauptsache es machte dumm im Kopf. (Scherz) Ich habe sowieso noch nie einen Unterschied zwischen Biersorten rausgeschmeckt.
Aber zurück zu mir kurz nach Karneval 1990.

Plötzlich tauchte in der Jessnerstraße der Besitzer der Wohnung auf, und ich sollte in nächster Zeit ausziehen, weil sein Kumpel eventuell die Wohnung haben wollte, aber er legte sich da auf keinen Termin fest.

Ein anderer Bekannter erzählte mir, dass ein Nachbar wohl in denn Westen gegangen war, wie ja damals viele und seine Wohnung leer stand. Also trat der größte und kräftigste von uns dort in der Dolziger Straße die Tür ein, wir reparierten das Schloss und zogen ein.
Leider kamen Missstimmigkeiten auf, so dass ich mich Ostern 90 sogar gezwungen sah, zu meiner Mutter in mein Heimatdorf nach Mecklenburg zurückzukehren.

Aber gut aufgefüttert und mit Geld in der Tasche landete ich im Mai 1990 wieder in Berlin an. Bei einem Kumpel in der Neuen Bahnhofstraße war ebenfalls der Nachbar ausgebüxt. Vorher hatte ich noch in der Mainzerstraße nachgefragt, die Westhausbesetzer wollten mich aber nicht haben.

Wieder dasselbe Spiel, Tür aufgetreten, Schloss eingebaut, aber diesmal wollte ich einen Mietsvertrag. Das war im Mai 1990 kinderleicht.
Den Erstantrag musste man in der Kommunalen Verwaltung in der Libauer Straße stellen. Als ich die Wohnung in Papier und Tüten hatte, wurde mir erstmal leichter.

Ein Nachbar, ein Student, der neben mir wohnte, schenkte mir seine alten Möbel, die auf dem Boden standen. So hatte ich erstmal eine Grundausrüstung von Tisch, Couch, Sesseln und Matratzen. Arbeitsmäßig half ich am Alex in einer Selbstbedienungsgaststätte aus, bis ein paar Kumpels mich überredeten in Westberlin bei einer Verleihfirma anzuheuern.

Als die türkischen Frauen da merkten, dass ich völlig pleite war, teilten sie ihr Frühstück mit mir und liehen mir etwas Geld, bis ich den ersten Abschlag erhielt. Meine Kumpels saßen finanziell ja selber alle auf dem Trocknen.

Die öffentlichen Verkehrsmittel konnte man zu diesem Zeitpunkt noch sehr einfach gratis benutzen. Ich habe jedenfalls in den ganzen Monaten, wo ich bei der Verleihfirma gearbeitet habe, keine einzige Kontrolle erlebt.

Im Juli 1990 kam die Währungsunion und ich stehe vorher lange an einem Bankcontainer an, um mir ein Konto einzurichten.
Viele DDR-Bürger hatten kein Konto. Mein Gehalt habe ich früher immer bar in der Lohnbuchhaltung abgeholt.

Die Arbeitskollegin von einer Freundin hat mir 4000 DDR-Mark gegeben, die ich 1:1 umtauschen kann. Ich behalte 500 DM, und sie hat trotzdem noch 1500 DM gerettet.

Ich wundere mich heute noch, dass ich damals mit so einem dicken Geldbündel in der Tasche rumgelaufen bin, und dass die Frau, die mich noch nie vorher gesehen hatte, mir vertraut hat.

Es war gar nicht so einfach ihre Wohnung in einem Hochhaus in Marzahn zu finden, da wir merkwürdigerweise keinen Übergabetermin für das Geld vereinbart hatten. 4000 Mark waren in der DDR immerhin 8 Monatslöhne von einer Verkäuferin.