Bahnhof Ostkreuz – Alles aussteigen – Dieser Zug endet hier
Lost am Ostkreuz

Die Gegend, in der ich wohne, war zwischen 2002 und 2016 dreizehnmal Thema eines Schreibwettbewerbs, der von Rudis Nachbarschaftszentrum in der Modersohnstraße ausgeschrieben wurde. Es ging darum, Storys zu verfassen, die am Ostkreuz spielen.
Leider gibt es diesen Literaturwettbewerb schon seit 2016 nicht mehr, sonst würde ich mich vielleicht auch mal dran beteiligen.
Bei den strengen Zensurbehörden bei uns in der DDR wäre so ein offener Schreibwettbewerb vor dem Fall der Mauer unmöglich gewesen. Da hätte man gleich die Stasi am Hals gehabt, und eine Akte „Operativer Vorgang Schreibwettbewerb“ wäre aufgemacht worden.
Alles, was veröffentlicht werden sollte, musste einer Kommission, Lektorat genannt, vorgelegt werden, die schon in den harmlosesten Sätzen Widerstand gegen die Staatsgewalt witterte. „Druckgenehmigungsbehörde“ lautete das gefürchtete Wort.
Damit hat auch die Ostberliner Schriftstellerin Gabriele Eckart 1983 ihre schlechten Erfahrungen gemacht, als die Veröffentlichung ihrer Gesprächsprotokolle mit Arbeitern aus dem Obstbau in Werder, wegen zu großer Realitätsnähe, untersagt wurde. Das Buch „So sehe ick die Sache“ erschien daher 1984 nur in einer westdeutschen Ausgabe.
Aber auch vielen von unseren Bands strich die Aufsichtsbehörde die Songs zusammen, und sie wussten bald nicht mehr, worüber sie noch singen sollten. Sogar etablierte Gruppen, wie Karat oder die Puhdys, hatten Schwierigkeiten.
„...die haben eben von der Liebe gesungen oder vom schönen Wetter, nur um überhaupt was machen zu können."
aus dem Buch von Robert Winter „Geschlossene Gesellschaft. Ostrock“
Die einzelnen Wettbewerbsbeiträge waren gut geschrieben, aber mir meist zu pessimistisch und sentimental. Es kam ja so rüber, als wenn sich am Ostkreuz die Leute am laufenden Band vor die Bahn werfen, oder von der Brücke springen, was sich hier, bei den vielen Gleisanlagen und S-Bahnunter- und überführungen, irgendwie anzubieten scheint. Dem Ostkreuz hing schon immer der Ruf eines Selbstmörderbahnhofs an.
Aber ich verstehe, warum viele der Autoren dieses Thema aufgegriffen haben. Hier wird man auf Schritt und Tritt damit konfrontiert. Gerade bin ich in der S-Bahnunterführung Boxhagener Straße mit dem Fahrrad an Leuten vorbeigeradelt, die dort unter der Brücke zelten. Ich vermute auch, dass viele der Schriftsteller selbst Existenzangst haben und in unsicheren Verhältnissen leben oder gelebt haben, hier schwere Zeiten durchmachten und das in ihre Storys hineinprojizierten. Mein Kiez scheint kein Hort der Glückseligkeit zu sein.
Dadurch ist alles ein bisschen düster geworden. Viele, die von außerhalb sind, haben Schwierigkeiten in Berlin richtig anzukommen. Mir geht es ja genauso. Ich konstatierte: „Man muss aufpassen, dass man beim Schreiben nicht ausversehen in die Sentimentalitätsfalle reintappt.“
Das Ostkreuz ist die Gegend, wo ich seit Wendezeiten lebe. Erste Bekanntschaft mit dem Ostkreuz habe ich, die in einem kleinen Dorf in Mecklenburg/Vorpommern aufgewachsen ist, schon im zarten Alter von zwölf gemacht, denn da ging ich hier mal verloren. Das war fünfzehn Jahre, bevor es mich endgültig in diese Ecke von Berlin verschlug. Vielleicht war das damals schon ein Vorzeichen. Diese „herzzerreißende“ Story hätte unter dem Titel „Lost in Berlin“ bestimmt den ersten Platz gemacht. Aber leider ist der Wettbewerb schon seit sieben Jahren Geschichte.
Wir kamen von einer Klassenfahrt in den Spreewald und stiegen hier am Ostkreuz um. Auf der Rückreise sollte noch ein Tag Berlin mitgenommen werden. Mit einem Mal waren die Anderen verschwunden, und ich fand ich mich alleine auf dem Bahnhof wieder, zwischen lauter fremden Leuten.
So lernte ich das Ostkreuz kennen. Panik überkam mich. Ich war das erste Mal in Berlin. Mein Verstand sagte mir, dass es das Beste wäre, wenn ich an Ort und Stelle auf meinen Klassenlehrer warten würde. Ich bildete mir ein, dass alle schon in heller Aufregung waren. Aber es war anders. Niemand hatte mein Verschwinden bemerkt.
Nach einer Stunde Warten stieg ich verzweifelt in die erstbeste S-Bahn, die zufällig zum Alex fuhr. Ich hatte ja keine Ahnung, wo die Anderen waren. Unter der Weltzeituhr, die ich aus dem Fernsehen kannte, begegnete ich zwei Mädchen aus meiner Klasse. Ich war gerettet.
Ich wunderte mich, dass niemand mich vermisst hatte, und musste mir eingestehen, was ich immer verdrängt hatte, nämlich, dass die Anderen mich nicht mochten, und ich keine Freunde hatte.
Fürs Erste fuhr ich wieder nach Hause, aber ein paar Jahre später, da war ich Neunzehn, kehrte ich zurück, und blieb in Berlin. Acht Jahre danach zog ich dann ans Ostkreuz.
Ich weiß natürlich, dass sich jetzt viele fragen, was am Ostkreuz so besonders ist und warum es solch einen Wettbewerb nicht auch über ihre Gegend gibt. Aber rund um diesen Umsteigebahnhof herrscht oder besser herrschte wohl ein morbider Charme, der in Berlin einzigartig zu sein scheint.
Aber das richtige Ostkreuzfeeling bekommt man erst, wenn man unter der S-Bahnbrücke Boxhagener Straße auf die Lichtenberger Seite rübergeht, in Richtung Rummelsburger See. Dort liegt etwas Mystisches, Magisches in der Luft, besonders nachts. Dann kann dem einsamen Spaziergänger in den menschenleeren Straßen und Unterführungen schon mal ängstlich zumute werden.
Ab und zu trifft man auf Grüppchen von Leuten oder Einzelne, die von Haschischdüften umweht sind, und sich in fremden Sprachen unterhalten. Früher war die ganze Gegend um das Ostkreuz mal die verlassenste Ecke von Berlin, bis Ende der Neunziger der Touristenboom einsetzte, und außerdem viele Studenten in die sanierten Häuser einzogen. Es gab zwischen dem Quartiersmanagement vom Sanierungsgebiet Ostkreuz, Hausbesitzern und TU und Humboldt-Uni Abmachungen, dass hier bevorzugt Studenten angesiedelt werden sollen. Das stand in einem Heft der Stadtteilzeitung, die wir ab und zu im Briefkasten hatten. Jetzt wurde mir klar, warum in mein frischsaniertes Haus fast nur Studenten zogen.
Als ich im Jahre 2000 hier einzog, kam es mir ja so vor, als wäre ich, auf meine älteren Tage, wieder in mein Studentenwohnheim zurückgekehrt, in dem ich mal Anfang der Achtziger gewohnt hatte. Ich fühlte mich, mit meinen siebenunddreißig Jahren, unter den anderen Mietern in meinem Haus, die fast alle erst Anfang Zwanzig zu sein schienen, wie Hundert.
Heute ist das Ostkreuz eine Gegend, in der die Jugend im Straßenbild vorherrscht, und die nachts voller Leben ist. Besonders im Sommer geht es hier hoch her - was mich manchmal irritiert… und vielleicht auch ein bisschen neidisch macht.
Kurzbiografie Tanja

Ich bin 1962 in einem kleinen Dorf in Mecklenburg Vorpommern geboren worden und mit 19 nach Berlin gekommen. Ich übte viele verschiedene Tätigkeiten aus. Zuletzt war ich als Sekretärin tätig.
Zeitzeugeninterview mit Tanja