„Stellt man sich nun vor, dass in unseren großen Städten ganze Häusergruppen, ja ganze Stadtviertel seit Jahrzehnten gewissermaßen in einer tiefen Finsternis liegen, so kann man sich denken, wie viele Menschenblüten hier aus Mangel an Licht vorzeitig geknickt wurden.“Ostwald, Hans. Berlin - Anfänge einer Großstadt

Zuerst einmal möchte ich feststellen, dass das Nachfolgende nichts mit dem titelgebenden Film von Wolfgang Neuss* zu tun hat, obwohl ich an der Ähnlichkeit mit ihm arbeite, seit ich mir einen Zahn ausgebrochen habe und mich wegen Corona nicht zum Zahnarzt traue.

30 Jahre Wandel entlang der Spree bedeutet für mich auch, dass ich hier schon seit ein paar Wochen in einer Dunkelkammer sitze. Jede Kellerwohnung oder jedes Souterrain, wie der Berliner, in Anlehnung an seine hugenottische Vergangenheit, vornehm sagt, hat mehr Sonne.

Die großzügige Baulücke vor dem Haus, in dem ich schon seit über 20 Jahren wohne, wurde in diesem Jahr geschlossen. Das Bauvorhaben nennt sich Freudenbergareal.

Erst fing es harmlos an, und ich habe mir auch gar keine Gedanken darüber gemacht. Jetzt aber ist auch der allerletzte Fleck zugebaut und wenn ich aus dem Fenster schaue, kann ich den Himmel nicht mehr sehen. Langsam schlägt mir die ewige Dunkelheit aufs Gemüt. Da lohnt sich im Winter das Aufstehen ja gar nicht mehr, da es sowieso den ganzen Tag in der Wohnung nicht mehr hell wird.

Das ist hier nichts für Depressive.

In der Frankfurter Allee liegt einer auf der Parkbank, den es härter getroffen hat als mich. Er hat zwar jede Menge Sonne, aber sein Domizil hat dafür keine Wände. Man kann nicht alles haben. Vielleicht ist er ein Leidensgefährte und sie haben sie ihm da, wo er gewohnt hat, auch die letzte Lücke, durch die noch ein Sonnenstrahl einfallen konnte, zugebaut, bis er es eines Tages nicht mehr ausgehalten hat.

Aber mal ohne Sarkasmus, diese ewige Dunkelheit macht depressiv.

Da verstehe ich die Finnen, die ja eine hohe Suizidrate haben, wegen den langen Monaten ohne Licht.

Die Situation hier lädt dazu ein, sich einen Kasten Bier und ein „Rohr“ **zu besorgen, „Hartz und Herzlich“ im Fernseher zu kucken und den Lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen. Das ist ja wie das Arbeiterelend in den dunklen Mietskasernen, die Heinrich Zille gemalt hat.

Man erwartet ja regelrecht, dass Jemand den Kindern, die im Hof spielen, zuruft: „Geht weg von der Blume, spielt bei den Müllkästen.“.

So eine dunkle Wohnung wie jetzt hatte ich noch nie, auch weil ich bisher immer ganz oben gewohnt habe, was viele Besucher von mir verflucht haben.

Ich habe nicht schlecht gestaunt, als ich vorhin auf die Straße getreten bin und eigentlich einen grauen, verhangenen Tag erwartet habe und mir stattdessen die Herbstsonne entgegengeschienen ist.

*Wolfgang Neuss (1923-1989) war ein westdeutscher Kabarettist.

**Als ein „Rohr“ wurde im Osten, eine Flasche Schnaps bezeichnet.