1975 | Deutschstunde in Mecklenburg
2010 | „Topographie des Terrors“. Die Ausstellung
2020 | Verrat. Meine unbeugsamen Helden
2021 | Antifaschismus in der DDR
2022 | „Topographie des Terrors“. Wen interessiert es noch?

Fazit | „Here's to you, Nicola and Bart, Rest forever here in my heart“*

1975 | Deutschstunde in Mecklenburg

„Es geht durch die Nacht.
Die Nacht ist kalt. / Der Fahrer bremst.“

Ich stehe mit hochrotem Kopf vor der Klasse und deklamiere stockend weiter:

„Sie halten im Wald.“

Lange Pause. An dieser Stelle bleibe ich völlig stecken. Die nächste Strophe ist mir entfallen.

„Zehn Mann Geheime Staatspolizei“

flüstert mir meine Banknachbarin zu. Der Lehrer wirft ihr einen warnenden Blick zu. Vor mir hatte sich ein Mitschüler gerade noch weit unbeholfener durch das Gedicht gekämpft. Ich finde wieder rein und ende erleichtert mit:

„Komm mit Exellenz! Die Abrechnung für John Schehr und Genossen!“

„Setzen, noch Zwei“, sagt der Lehrer. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Eine „Zwei“ lässt meine Mutter gelten, wegen einer „Drei“ hätte ich Stress bekommen. Durch dieses Gedicht von Erich Weinert aus dem Jahr 1934, das ich in der Schule auswendig lernen musste, waren bei uns in Ostdeutschland die Morde an „John Schehr und Genossen“ sehr bekannt. Die Westberliner Tochter jenes Beamten aus der Prinz-Albrecht-Straße, der 1934 die Erschießungsaktion im Düppelner Forst in Berlin/ Wannsee geleitet hatte, erlebte nach dem Fall der Mauer eine sehr unliebsame Überraschung: endlich konnte sie Einblick in die Stasiarchive nehmen. Eigentlich wollte sie ihren Vater rehabilitieren, denn sie hatte die ganze Zeit über geglaubt, dass er lange Jahre unschuldig in DDR-Haft gesessen hätte. Aber stattdessen entpuppte sich ihr Vater als Massenmörder: die Morde an dem Reichstagsabgeordneten John Schehr, an Rudolf Schwarz, Eugen Schönhaar und Erich Steinfurth hatte er zu verantworten und waren nur Teil eines insgesamt verbrecherischen Lebens. 2005 hat sie ein Buch über ihren Vater geschrieben (Beate Niemann: Mein guter Vater. 3. überarbeitete + ergänzte Auflage, Metropol Verlag, Berlin 2008). Für ihre Familie galt sie fortan nicht mehr als dazugehörend.

2010 | „Topographie des Terrors“. Die Ausstellung
In diesem Jahr wurde die Ausstellung „Topographie des Terrors“ auf dem ehemaligen Gelände des GESTAPO-Hauptquartiers eröffnet. Es ist der gleiche Ort, wo früher die Mauer stand und die beiden Brüder ihre Schwester in der ehemals brachliegenden Straße gesucht hatten. Wenn man heute das Ausstellungsgelände betritt, taucht man ein in eine ganz andere Zeit. Die Gesichter von den Tätern mit ihren militärischen Kurzhaarschnitten auf den Bildern an den Wänden strahlen Grausamkeit aus. Dagegen kann man von den Bildern ihrer Opfer, die für die Aktenansicht jeweils von rechts, von links und von vorn aufgenommen wurden und deren Gesichter irgendwie nackt wirken, deutlich die schlecht verhohlene Angst vor ihrem weiteren Schicksal ablesen. Es wird oft das letzte Mal in ihrem Leben gewesen sein, das jemand sie fotografiert hat.

2020 | Verrat. Meine unbeugsamen Helden
Der letzte Satz des Sprechers vom bayerischen Radiosender BR2 ließ mich stutzig werden. Ich forschte nach und was ich dann erfuhr, zerstörte viele meiner Illusionen. In dem Feature ging es um eine Berlinerin, die im Strafgefängnis Plötzensee ermordet wurde und deren Namen mir seit Langem geläufig war. Schon nach nur kurzer Vernehmung in der Prinz-Albrecht-Straße hatte sie alle verraten. Andere aus der Gruppe sind auch nicht standhafter gewesen. Der Funker einer bekannten Widerstandsgruppe wurde hier gefoltert und gab den Code preis, mit dem die Funksprüche verschlüsselt waren. Dadurch erfuhr die GESTAPO die Adressen der Hauptakteure des Berliner Widerstandes. Im Dezember 1942 folgten darauf Hinrichtungen.

Durch das, was ich bei meinen Nachforschungen in Erfahrung brachte, wurden Widerständler, die für mich früher als unbeugsame Helden auf einem Sockel gestanden hatten (und auf Sockeln standen ihre in Stein gemeißelten Abbilder ja im wahrsten Sinne des Wortes in jeder Ecke der DDR rum) menschlicher. Das nahm ihnen ihren Heiligenschein. Sie wurden zu Menschen wie Du und Ich, voller Fehler und Schwächen und waren nicht mehr die stahlharten Kämpferinnen und Kämpfer, als die sie in der DDR immer dargestellt wurden. Viele machten belastende Aussagen und einige erklärten sich auch bereit, als Spitzel zu arbeiten. Der berliner Widerstand war tatsächlich stark von Verrätern durchsetzt. Manche Spitzel haben sich sogar freiwillig der GESTAPO angedient, andere wurden erst während der Folter dazu gezwungen. Etwas naiv dachte ich früher immer, dass während der Folter natürlich keine Namen preisgegeben wurden und vor der standrechtlichen Erschießung noch die Marseillaise gesungen würde. Später würde dann ein ganzes Stadtviertel nach Dir benannt und die Schulkinder müssten Gedichte über Dich auswendig lernen. Eigentlich wusste ich jetzt nach meinen Recherchen gar nicht mehr so richtig, was ich noch glauben sollte. Die Enttäuschung war jedenfalls groß.

2021 | Antifaschismus in der DDR
Eine Bekannte, die im Westteil Berlins zur Schule gegangen ist, sagte mir einmal, dass sie uns im Osten um die ausführliche Auseinandersetzung mit dem Faschismus beneiden täte und uns damit auch eine antifaschistische Grundhaltung beigebracht wurde. Natürlich wären Sophie Scholl und ihre Geschichte auch im Westen bekannt. Das sei aber nie ein so großes Thema gewesen. Dagegen würde ja bei uns in der DDR in Büchern, Filmen und im Schulunterricht das Gedenken an die Antifaschisten ganz stark betont. Tatsächlich wurden wir auf Klassenfahrten und an Wandertagen von einem Konzentrationslager zum nächsten geführt. In unseren Schullesebüchern lasen wir Abschiedsbriefe, die vor dem Eindruck des Fallbeiles geschrieben wurden. Darunter auch die Briefe von Mitgliedern der „Roten Kapelle“, eine der bedeutensten Berliner Widerstandsgruppen. Auch sie wurden in der Prinz-Albrecht-Straße verhört. Die Filme, in denen Menschen von Männern in langen schwarzen Mänteln aus ihren Wohnung herausgeführt wurden oder Autos an U-Bahn-Eingängen vorbeifuhren und der im Fonds sitzende Spitzel auf einen dort Wartenden deutete, übten in meiner Jugend einen tiefen Eindruck auf mich aus. Am Ende des Films erschien immer ein Abspann, aus dem hervorging, in welchem Konzentrationslager der jeweilige Held des Films gestorben war. Wie viele Male habe ich deswegen in Tränen aufgelöst vor dem Fernseher oder im Kino gesessen.

Letztens ist mir mal der Begriff „Verordneter Antifaschismus“ zu Ohren gekommen. Damit ist die offizielle Aufarbeitung der DDR mit der Zeit des Nationalsozialismus´und eine Haltung dazu gemeint. Für mich war das kein verordneter Antifaschismus, da gehe ich nicht mit. Ich habe die Leute bewundert für den Mut, den sie hatten. Ich wollte sein wie sie, auch wenn ich mir später eingestehen musste, dass ich mir ein allzu idealisiertes Bild von ihnen gemacht hatte. Ein Historiker aus dem Osten sagte einmal, dass ihn das schlechte Gewissen geplagt hatte, weil er dabei mithalf, solche holzschnittartigen Bilder, die mit der Wirklichkeit wenig gemein hatten, zu verbreiten. Die Gestapoakten, in die er Einblick hatte, sagten ihm ja etwas ganz Anderes.

2022 | „Topographie des Terrors“. Wen interessiert es noch?
Ein schlanker Mann mit weißem Haar, vermutlich der Lehrer, schwingt sich sportlich aus dem Bus. Hinter ihm quillt aus dem Fahrzeug eine Horde Jugendlicher, die ununterbrochen mit ihren Handys spielen. Die Jungen nutzen den Ausflug, um endlich ihre Mitschülerinnen, auf die sie schon seit langem scharf sind, anzubaggern. Man ist auf Klassenfahrt in Berlin und zu Besuch in der Ausstellung „Topograhie des Terrors“ in der ehemaligen Prinz-Albrecht-Straße, heute Niederkirchnerstraße. Die Gruppe bewegt sich auf einen containerartigen Flachbau zu. Auf dem Freigelände der Ausstellung drängeln sich bereits weitere Gruppen vor den Schautafeln. Ein Stimmenwirrrwar in allen Sprachen schlägt mir entgegen. Die Schüler, die sich auf dem weitläufigen Gelände herumschubsen (und kein Schüler auf Klassenfahrt nach Berlin wird um diesen Pflichtbesuch herumkommen!) sind sich vermutlich gar nicht bewusst, dass sie hier genau auf dem Platz stehen, von dem aus einmal ein Spinnennetz über die Stadt gelegt wurde. Ein Netz, in dem viele sich verfingen und nicht wieder herauskamen.

Dagegen haben vielleicht einige ältere Berliner, denen ich in den 90er Jahren auf den Holzbänken der alten S-Bahn gegenüber saß, das GESTAPO-Hauptquartier noch von innen gesehen, entweder als Gefangene oder als Täter. Und die gleiche alte S-Bahn fuhr auch schon in den 30/40ern des vorigen Jahrhunderts… Einige der Überlebenden werden ihren Folterern von damals möglicherweise ein weiteres Mal begegnet sein.

Fazit | „Here's to you, Nicola and Bart, Rest forever here in my heart“*
Ich muss noch anmerken, dass ich solche unbeugsamen Kämpfer für die Freiheit während meiner Kindheit und Jugend in Ostdeutschland, wo ja viele, die bei uns was zu sagen hatten, ehemalige Antifaschisten waren und selbst KZ Erfahrungen hatten, nie persönlich kennengelernt habe. Sie begegneten mir nur in Büchern und Filmen und natürlich waren viele Straßen nach ihnen benannt. Aber ich gab die Hoffnung nicht auf, einmal so Jemandem zu begegnen. Wenn sie nicht alle bereits verstorben waren: irgendwo mussten diese Helden doch geblieben sein, die nach 1918 die Räterepublik verteidigt hatten, die 1937 nach Spanien gingen und in den Internationalen Brigaden gegen Franco gekämpft hatten. Die in ihren Schlafzimmern oder Kellern die KPD-Zeitung „Rote Fahne“ druckten und illegale Gewerkschaftsgruppen in den Betrieben gründeten...

     „ … Jeden Tag schließe ich mit dem Leben ab und denke heute abend ist es
     soweit und die Nacht ist entsetzlich. Dann fängt wieder ein Morgen an, und die
     Qual beginnt von neuem. Werden sie heute kommen?“
     Käte Niederkirchner, Konzentrationslager Ravensbrück September 1944

 

 


*Aus dem Lied: „The Ballade of Sacco and Vanzetti“, Text Joan Baez, Musik Ennio Morricone. Zum Film „Sacco und Vanzetti“ von Giuliano Montaldo, 1971. Thema: Justizmord an zwei unschuldig in USA auf dem elektrischen Stuhl hingerichteten Anarchisten. Das Lied wurde zu einer Hymne vieler politischen Gefangenen.