„Er trat einen Schritt zurück und musterte mich von oben bis unten. Gucken Sie sich doch einmal an. So wollen Sie sich im befreundeten Ausland zeigen. Sie repräsentieren dort die Deutsche Demokratische Republik Herr Bergner! Steigen Sie bitte aus. Und Sie Herr Scherer, Sie steigen bitte auch gleich mit aus. Ihre Reise ist hier beendet.“Aus „Bluessommer“ von Kai Lutter *

Meine erste Reise ins kapitalistische Ausland ging Gottseihdank etwas länger.

Zurück zur Stadt meiner Träume. Was würde man denn vermuten etwa Paris, Barcelona oder New York. Nein, es ist London, die Stadt aus der die Musik, die die ganze Welt verzaubert hat, entsprang. Schon englische Namen wie John, Keith, Rick, Brian usw. klangen in meinen Ohren wie eine Melodie.

Als Teenager hatte ich auch mal das Buch „Das Herz von London“ von Monica Dickens gelesen, was mich neugierig gemacht hat.

Als „gelernter“ DDR-Bürger war ich noch nie weiter in die Welt hinausgekommen als bis nach Prag und Budapest.

Also habe ich nach der Wende ein paar Monate bei einer Verleihfirma gearbeitet und Geld gespart, wovon leider nicht mehr so viel übrig war, eine Landkarte von Europa gekauft und mich mit einer Freundin, die ich erst kurz vorher kennengelernt hatte, und die gerade von der Frau ihres Lebens verlassen worden ist, an die Tankstelle in Schöneweide gestellt. Und es sah so aus als ob London auf mich warten würde, denn ich hatte im Schliemann-Café im Prenzlauer Berg vorher noch jemand getroffen, der in der Wagenburg in der Adalbertstraße lebte. Als ich ihm von meinen Reiseplänen erzählte, gab er mir die Adresse von einem besetzten Haus in London, wo er selber kurz vorher gewesen. Wir sollten nach Ben fragen.

Wir beiden reiselustigen Turteltäubchen verfolgten ganz verschiedene Ziele. Die eine wollte endlich den Heimatboden der Rolling Stones betreten, und Dana ging es darum ihren Liebeskummer zu vergessen.

Was jetzt kommt ist noch unglaublicher, tatsächlich fuhr schon der zweite Fahrer, der uns mitnahm bis nach London durch. Er war ein extrem sympathischer junger Mann, der mit dem Auto seine russische Heimat besucht hatte und uns an den Raststätten einlud und sogar die Fähre bezahlen wollte, was wir natürlich nicht zuließen. Er freute sich, dass er Reisegefährtinnen hatte, und wir drei, alle so Mitte 20, wurden gleich ein Team. Dana, die einen sehr guten Orientierungssinn besitzt im Gegensatz zu mir, saß neben ihm mit den Karten auf den Knien.

Merkwürdigerweise wollte auch von Berlin bis London niemand meinen Ausweis sehen. Wenn ich daran zurückdenke, was abging, wenn in Bad Schandau (auf der Strecke nach Prag, siehe Zitat oben) die Grenzkontrolle zustieg. Obwohl ich von einem sozialistischen Bruderland in das andere reiste, wurde fast jedes Mal mein ganzes Gepäck durchwühlt. Draußen in der Dunkelheit hallten Schreie und Hundegebell, so das man dachte, das letzte Stündlein ist angebrochen.

Mit einer Flasche russischen Sekt in der Hand fuhren wir 7 Monate nach Mauerfall morgens frohgemut in London ein. Das fing ja gut an, und das ging auch gut weiter. Wir mussten unseren völlig übermüdeten Fahrer (Er hatte tausende Kilometer zurückgelegt ohne zu schlafen.) davon abhalten, uns bis vor die Haustür zu fahren.

Vor dem besetzen Haus angekommen fragen wir nach Ben, der uns sehr freundlich aufnahm. Er und sein Kumpel waren Straßenmusiker in der Londoner U-Bahn. Von London muss ich wohl nicht viel berichten: die Busse, die Telefonzellen (damals noch), die Helme der Polizisten, das kennt ja jeder. Die Taxis sehen genauso aus wie bei Edgar Wallace. Man hätte sich gar nicht gewundert, wenn Klaus Kinski hinterm Lenkrad gesessen hätte. Das berühmte Fish and Chips, das in englischen Romanen immer fleißig gegessen wird, bringt es aber nicht und ist sehr teuer besonders der Fisch.

Das Straßenbild war sehr ungewohnt. Ich bewunderte die „TausendundeineNacht“-Schönheit der indischen Mädchen mit ihren langen Zöpfen und den Pluderhosen aus Seide. Ich sah das erste Mal orthodoxe Juden mit komischen Hüten und langen Gehröcken. Ihre Frauen hatten alle irgendwie dasselbe Kleid an (langärmlig, am Hals geschlossen und knielang) und dieselbe Frisur, stumpf geschnittene Haare bis auf die Schultern. Jahre später ist mir klargeworden, dass das Perücken waren. Hocherhobenen Hauptes und unnahbar wirkend gingen junge Jamaikaner mit riesigen Schirmmützen, die fünfmal so groß waren wie ihr Kopf, über die Straße. London schien aus einer Ansammlung von Parallelwelten zu bestehen, die sich nicht berührten. Es gab wohl Klein Kalkutta, Klein Jerusalem, Klein Jamaika usw. und dann noch die Welt der alternativen Hausbesetzer, in die Dana und ich geraten waren. Aber bei aller Multikulti-Romantik, man mag sich nicht ausmalen was passiert, wenn sich eine pluderhosige Inderin und ein Gehrocktragender Orthodoxer ineinander verlieben.

Einmal als ich abends allein unterwegs war, kam mir eine endlose Gruppe von tausenden von jungen Männern entgegen. Merkwürdigerweise trugen Alle feine Anzüge, also waren so gekleidet, als wenn sie zu einer Hochzeit gehen würden. Ben, der sich in London sehr um uns gekümmert hat, erzählte mir, dass das Fußballfans gewesen sind, und es in England für viele üblich ist im besten Anzug zum Spiel zu gehen.

Ich habe mich gefreut als ich eines von meinen Lieblingsbüchern, „The Key at thedoor“ von Alan Silitoe, dass ich als Teenager geliebt habe, in dem besetzten Haus in dem Londoner Stadtteil Stoke Newington, in dem wir uns befanden, liegen gesehen habe.

Enttäuscht hat mich, dass dort keiner meine Götter, die Rolling Stones, zu wertschätzen wusste. Einzig Pink Floyd schien akzeptiert zu sein, warum weiß ich auch nicht. Wahrscheinlich hat sich in ihrer englischen Heimat rumgesprochen, dass viele von meinen Helden ihre Ideale längst vergessen haben. Ähnliches sagt man ja von Mick Jagger, obwohl man ihm natürlich alles verzeiht, wenn man ihn singen hört. Wer mit seiner Stimme so zärtlich „So don´t play with me, ´cause you are playing with fire.“ hauchen kann, kann kein schlechter Mensch sein. (Scherz) Wenn er zum Mikro greift, wird er wohl zu einem Anderen.

Bald kam es so, wie es kommen musste. Wir gingen den Leuten auf die Nerven, obwohl wir kaum da waren, und Ben bekam Ärger wegen uns. Zum Glück hatte sein Musikerkumpel mich mit zu einem anderen besetzten Haus ein paar Straßen weiter mitgenommen, und die Leute dort empfingen uns mit offenen Armen. Mittelpunkt in diesem Haus war eine freimütige, warmherzige junge Frau namens Judy. Die Freundlichkeit, die uns entgegenschlug war nicht normal, und sowas habe ich auch nie wieder erlebt. Man wollte uns sogar Geld geben, damit wir länger bleiben konnten, was wir aber natürlich nicht annahmen, und als wir Abschied nahmen sind fast Tränen geflossen. Ich habe mir schon überlegt, dass der Grund dafür, dass dieses Inselvolk so gute Musik macht, vielleicht in der Aufgeschlossenheit und Freundlichkeit vieler seiner Bewohner liegt.

Und ja, die englischen Männer sehen genauso gut aus wie die Musiker auf den Plattencovern. Und nein, leider ist es bei mir nur beim Betrachten geblieben, aber dafür ist meine Freundin unter den englischen Frauen fündig geworden. Merkwürdigerweise wurde sie, die aussieht wie ein Junge und sich auch so fühlt, in der Subway, im Pub und auf der Straße extrem nervig von englischen Männern angemacht. Dort fährt man wohl sehr auf den maskulinen Typ ab.

Ich denke, unseren Londoner Freunden wird es gut ergangen sein, weil sie den Wert der Solidarität zu schätzen wissen. Und man stelle sich mal vor, Ben hat mir später in Berlin erzählt, dass er von seinen Mitbesetzern (aus dem ersten Haus) auf die Straße gesetzt wurde, weil er uns Gastfreundschaft gewährt hat.

Die aufgeschlossene, kontaktfreudige Dana begegnete in London dem Kumpel ihres Lebens, einem breitschultrigen Motorradboten mit einem butterweichen Herzen namens Al, der uns später mit seinen Freunden, von denen viele auch Motorradboten waren, noch oft in Berlin besucht hat, meist mit dem Motorrad.  Al bezeichnete sich selbst als störrischen Kartoffelkopf from Northern England. Dana und er haben, beide auf ihrem eigenen Motorrad, ein Jahr später zusammen eine Tour durch Irland unternommen und Dana hat ihren Kumpel auch noch oft in London besucht. Ich bin natürlich auch eingeladen gewesen aber money, money...

Zu guter Letzt traf ich unter den ganzen Ignoranten doch noch auf einen Stones-Fan.

Ein Kumpel von Al, der Junkie war (ein sympathischer, intelligenter Typ, aber leider...), hörte gerade eine Kassette mit der angeblich letzten Aufnahme, die Brian Jones noch kurz zuvor, bevor er tot im Pool gefunden wurde, gemacht hatte 

* Er beschreibt hier die Grenzkontrolle in Bad Schandau auf der Strecke nach Prag. Für ihn und seinen Kumpel ist nämlich mein Alptraum in Erfüllung gegangen, sie sind im Zug verhaftet worden, wohl in erster Linie weil sie lange Haare hatten, und Kai hat das volle Programm samt Analuntersuchung erlebt.

Buchempfehlungen:  Alan Silitoe „Der Schlüssel zur Tür“ und

„Und fing sich einen Falken“ von Barry Hines

Die Verfilmung von letzterem Buch ist auch sehr zu empfehlen.)