Ich hab mal ´ne Sendung im Fernsehen gesehen, wo Uli Zelle dort oben in unserem Wahrzeichen herumgekraxelt ist. Und vor kurzem ist mir zu Ohren gekommen, dass den Wasserturm jemand gekauft hat. Erzählt es nicht weiter, aber das war nur ein Strohmann. In Wahrheit gehört er jetzt mir, und ich kann von oben aus diesen merkwürdigen kleinen Fensterschlitze auf das Leben und Treiben rund um den Bahnhof Ostkreuz herabblicken. 

Lebensmittel bestelle ich mir beim Lieferservice. Wir sind hier ja nicht im Hungerturm von Bernau. An der Außenwand des Turms lasse ich einen Korb herunter, und drehe ihn an der Seilwinde wieder nach oben. Das habe ich mal in einem Film über einen Leuchtturmwärter gesehen. Bezahlt wird mit Paypal. Der Leuchtturmwärter musste noch Geld in den leeren Korb legen. Und wenn mich einer fragt, ob ich nicht ein schlechtes Gewissen dabei habe, alleine in meinem Turm zu wohnen, bei der ganzen Wohnungsnot in Berlin, dann sage ich klar und unmissverständlich: “Nein.” Manchmal muss man auch egoistisch sein.

An die Durchsagen auf dem Bahnsteig kann man sich gewöhnen. Eine Freundin von mir, die in der Simplonstraße, unweit des S-Bahnhofs, wohnt, stört das aber auch nach vielen Jahren immer noch, weshalb sie sogar im Sommer nachts die Fenster zulässt. Und außerdem brauche ich keinen Mann mehr, da ich selbst in einem Phallussymbol wohne. Aber mal Spaß beiseite. Ist er nicht prächtig unser Turm? 

Das wurde mir erstmal wieder so richtig klar, als ich an Silvester auf dem Annemirl-Bauer-Platz - was ist das überhaupt für ein Name, das arme Mädel muss es ja schwer in der Schule gehabt haben, heute nennt man das Mobbing, früher hieß es Hänselei - wie der Park vor dem S-Bahnhof heißt, nach Technorhythmen tanzte. 

Ein paar enthusiastische Jünger der elektronischen Musik hatten eine fahrbare Batterie organisiert und einer, der wohl der zukünftige Sven Väth oder Ricardo Villalobos ist, steht dick eingemummelt, denn es herrschte klirrende Kälte, an den Turntables, oder wie man das nennt. Sie veranstalten eine spontane Free Techno Party. 

Eigentlich bin ich ja schon zu alt dafür, aber ein weißhaariger Mann, der noch erheblich älter ist als ich, lässt dort auch ungeniert seine Glieder kreisen. Deshalb probiere ich es auch einmal, obwohl aus mir wohl kein Technofan mehr wird. “Woher kennst du denn Villalobos und Sven Väth?”, werden viele fragen. Von dem ersten habe ich was im Spiegel gelesen, und von dem zweiten im Rolling Stone und in der zitty, als es die noch gab. In diesem Interview erzählte er auch, dass er in Mexiko mal ein Konzert für Drogenbosse gegeben hat, mitten im Urwald. Aber das ist ein Weile her. Inzwischen werden schon viele andere Sterne am Technohimmel aufgeleuchtet sein.

Auf Getränke braucht auch nicht verzichtet zu werden, bei den vielen Spätis in der Sonntagstraße. “Wo ist denn die Chefin?”, frage ich einen langhaarigen jungen Mann, der im Getränkemarkt am Ende der Straße verkauft. Er antwortet mir: “Das ist jetzt mein Laden. Meine Vorgängerin musste aufgeben. Sie konnte sich zum Schluss schon keine Wohnung mehr leisten, und hat im Laden geschlafen.” Das tut mir leid. Sie hat den Laden jahrelang gehabt. Jetzt verstehe ich auch, warum sie einer Freundin von mir, die manchmal als Toilettenfrau aushilft, immer das Kleingeld eingewechselt hat. Wahrscheinlich wusste sie es selber, wie es ist, kein Geld zu haben. 

Letztes Silvester hat meine Freundin in einem Club, hier in der Nähe, die Toilette gemacht, und hundert Euro Trinkgeld bekommen. “Dafür, dass ich ein Auge zugedrückt habe, wenn sie als Pärchen oder mit mehreren auf die Toilette gegangen sind, haben sie mir einen Zehner in die Hand gedrückt”, erzählt sie mir. “Was wollten sie denn auf der Toilette?”, fragte ich naiv, und dachte dabei eigentlich an spontanen Sex. “Die wollten dort Kokain durch einen gerollten Geldschein in ihre Nase ziehen”, antwortete sie mir. 

“Habt ihr auch Buchholzer da?”, frage ich den neuen Ladenbetreiber vom Getränkeladen in der Sonntag. “Was ist das, Buchholzer?”, fragt er zurück. Diesen genialen Most, besonders über den weißen Johannisbeermost könnte man Gedichte schreiben, den es nur in wenigen Getränkeläden wie diesem hier noch gab - ein Produkt aus der DDR, das die Wende überstanden hat - kennt er gar nicht. Ich bin oft extra deswegen in die Sonntagstraße gegangen. Scheinbar sind mit dem Besitzerwechsel auch die Kontakte zur Mosterei verlorengegangen. Seitdem habe ich dieses Produkt nie wieder gesehen. 

Mittlerweile habe ich herausgefunden, dass die Saftkelterei in Pankow/Buchholz 2018 aus Hygienemängeln geschlossen wurde.

Ich kaufe mir eine Flasche Müller Thurgau. Das ist der einzige Weißwein, von dem ich keine Kopfschmerzen bekomme. Eigentlich wollte ich ins Zielona Gora in der Grünberger Straße, gegenüber dem Boxi. Dort bin ich mit dem Mädel hinter der Bar an diesem Silvesterabend fast allein. “Alle sind bei der jährlichen Anarchistendemo vor dem Abschiebeknast, und kommen erst kurz vor zwölf wieder”, sagt sie zu mir. “Mit den Anarchisten hat es sich doch eigentlich lange erledigt”, geht es mir durch den Kopf. “War da nicht irgendwas mit Bomben bauen, und auf den Zaren schießen?”

“Weißt du, wo der Wiesenweg ist?”, hatten mich vorher auf der Neuen Bahnhofstraße noch zwei Jungs gefragt, die eindeutig als Studenten aus Westdeutschland auszumachen sind, ich tippe mal Erstsemester. Ich hatte schon vom Club Kosmonaut in der Stadtteilzeitung gelesen. Ich sehe mir die beiden an und komme ins Grübeln. “Man sind die jung”, denke ich. Die beiden erinnern mich an mich selber, die auch mit neunzehn zum Studium aus der Provinz nach Berlin, damals noch Hauptstadt der DDR, gekommen ist. Sie wundern sich über meine Blicke. 

Am vierundzwanzigsten, wo Lidl noch bis Mittag aufhatte, habe ich zwei Studenten mit je zwei Sixpacks und zwei Tiefkühlpizzas in der Hand die Treppe hochgehen sehen. Genau wie ich früher zu meinen Studentenzeiten schienen auch sie keine Lust zu haben, in die Heimat zu fahren. Aber ich wohnte damals in den Achtzigern im Studentenwohnheim in der Storkower Straße, wo wir zu meinem Leidwesen an Weihnachten immer nach Hause fahren mussten. 

Wie viele der meist jungen Leute, die hier wohnen, von außerhalb sind, fällt einem immer auf, wenn an Weihnachten plötzlich die ganzen geparkten Autos auf der Straße weg sind. 

Ich hatte am zweiundzwanzigsten vor Heiligabend noch einen Termin auf dem Alex. Auf dem Rückweg kaufe ich in dem kleinen Lebensmittelmarkt auf der Karl-Marx-Allee ein, den ich kenne, seit ich gleich nebenan in der Gubener Straße gewohnt habe. In den Laden gehe ich gerne, da man dort schnell alles findet, was man haben will. In den Supermärkten suche ich oft stundenlang orientierungslos nach Ketchup oder Pfeffer. 

Vor mir an der Kasse steht ein Mann, der Kartoffeln, Bier und Zwiebeln auf das Band gelegt hat. “Das Hackfleisch für die Bouletten habe ich schon zu Hause. Es gibt dazu Kartoffelsalat”, sagt er mit stolzer Stimme, und weist auf die Kartoffeln. “Mit wem feiern sie denn?, frage ich ihn. Er antwortet mir empört: “Allene.”

“Willkommen in Singleberlin”, denke ich, und: “Was ist hier los, in dieser großen Stadt, dass hier so viele Leute Singles sind?” Schon eine Kollegin meiner Mutter, die einen Mann aus unserer Gegend geheiratet hat und die Berlinerin war, hatte ihr erzählt, dass Berlin keine Stadt für Beziehungen sei, sondern eine für One Night Stands. Dieselben Erfahrungen habe ich auch gemacht.

Als ich dran bin, frage ich den Vietnamesen, der im Lebensmittelladen an der Kasse sitzt: “Sagen Sie mal, warum hat eigentlich Fleischer Neuling”- der gleich neben ihm war, und den es schon zu DDR Zeiten gab - “dicht gemacht? Letztes Weihnachten habe ich dort noch Kasslerbraten gekauft.” Er erwidert: “Ich weiß das auch nicht. Seine Sachen waren wohl zu teuer.” Das fand ich gar nicht. Die Preise waren auch nicht höher als im Supermarkt, bloß die Qualität war viel besser und alles viel frischer. 

Ein junger Mann hinter mir bedauert ebenfalls, dass es den Laden nicht mehr gibt. “Warum hast du Nase dann nicht öfter dort mal eingekauft?” denke ich, aber sage es nicht laut. 

Wo ich schon mal da bin, fahre ich gleich noch beim Teeladen in der Karl-Marx-Allee vorbei. Seit ich das Kinderbuch “Tosho und Tamiki”, das sich mit dem Abwurf der Bombe über Hiroshima beschäftigt, gelesen habe, bin ich neugierig auf die japanische Teezeremonie. Eigentlich brauche ich ja diesen pulverisierten, grünen Tee, den man mit einem Besen schaumig schlagen muss, wie ich in einem Video gesehen habe. Er wird in kleinen Döschen verkauft, die in dem Teeladen in einer Art Safe stehen, und stellt sich als abartig teuer heraus. Außerdem soll er sehr bitter sein. 

Deshalb nehme ich den blättrigen Grünen, der aber auch nicht billig ist, und dann noch den berühmten türkischen Apfeltee. Gegen den Durst an Weihnachten habe ich also vorgesorgt. Der Verkäufer scheint nicht gesprächig zu sein, denn ich wäre jetzt, kurz vor Weihnachten, eigentlich in Kauflaune. Aber er empfiehlt mir nichts, bzw. legt mir nichts von seinen Schätzen besonders ans Herz. Vielleicht hält er mich nicht für eine wahre Teeliebhaberin, die die weitgereisten getrockneten Blätter zu würdigen weiß.

Der grüne Tee schmeckt wie Gras, aber das muss wahrscheinlich so sein. Als ich im Internet chatte, finde ich noch andere, die mit grünem Tee ihre Probleme haben. Einer antwortet ihnen: “Niemand muss grünen Tee trinken. Versucht es doch einfach mal mit Bier.” 

Am dreiundzwanzigsten kaufe ich noch auf den letzten Drücker in der Buchhandlung in der Pfarrstraße, hier in der Nähe, bloß unter der S-Bahnbrücke durch, den “Friedrichshainer Geschichtskalender”, den mein Nachbar sich immer wünscht. Merkwürdigerweise ziert diesmal das Deckblatt eine historische Aufnahme von unserem Haus. Die Eckkneipe hieß im Jahre 1935 “Zum Goldenen Löwen” und die Gastwirtin war eine gewisse Maria Blödorn, sieht ansonsten aber noch genauso aus. Ich habe ein schlechtes Gewissen gegenüber der Buchhändlerin, weil ich Bücher nur noch über Kindle kaufe. Meine Wohnung ist zu klein, und am Laptop kann ich ohne Brille lesen. Deshalb nehme ich noch einen sehr teuren Weihnachtsstern mit, und hänge ihn ins Fenster. 

Dieses Jahr ist es ja mal wieder schneefrei, aber ich werde nie vergessen, wie mein Freund und ich 2001, unserem ersten gemeinsamen Weihnachten, am 24. abends erst in einen Schneesturm gerieten und dann in eine Kirche, als wir einen nächtlichen Spaziergang durch das weihnachtlich geschmückte Friedrichshain unternahmen. Vorm Supamolly in der Jessner Straße ging uns der Pulverschnee schon bis zu den Knien, da am Weihnachtsabend das Räumkommando natürlich unterm Tannenbaum saß. 

Wir sahen Leute durch die tiefverschneiten Straßen in eine Kirche in der Nähe der Gürtelstraße eilen. Das war die katholische Pfarrkirche St. Mauritius und die Gläubigen wollten zur Mitternachtsmette. Natürlich gingen wir auch rein. Es wurde dort bald so knackedicke voll, dass die nach uns nur noch Stehplätze bekamen. Als “gelernter DDR Bürger”, der aus dem religionsabstinenten Osten kam, und in der Schule keinen Religionsunterricht hatte, konnte ich damit natürlich nicht viel anfangen. Der Kirchgang an Weihnachten war aber trotzdem ein Highlight für mich, genauso der viele Schnee.

“Alle gehen auf Party”, denke ich an Silvester. Sogar mein Nachbar, der hoch in den siebzigern ist, hat sich schick gemacht, und ist mit einer Tasche, in der es klirrte, zu einem Freund gegangen. Vorher hatte er mir noch ein Flasche Rotkäppchensekt geschenkt. 

Unvorsichtigerweise probierte ich die gleich, nur um festzustellen, das mir die Beine schwer wurden, und ich völlig betrunken war. Da ich nie welchen trank, war ich nicht darauf vorbereitet, wie sehr Sekt dreht. Ich hatte schon die Befürchtung, dass der Abend für mich gelaufen ist. Aber so schnell wie die Wirkung eintrat, so schnell verflog sie auch schon wieder. 

Mein Nachbar über mir, dem ich ein Stück selbstgemachte Pizza vorbeigebracht habe, und der vom Alter her fast mein Sohn sein könnte, hat auch nichts vor an Silvester, und beschäftigt sich mit Löten. 

Es klopft an der Tür. “Ich wollte die Pizza im Ofen aufbacken, und habe sie vergessen. Hast du noch ein Stück davon?”, fragt mich mein Nachbar. Damit kann ich dienen. Ich habe ja ein ganzes Blech gemacht. Ich schenke ihm auch noch eine halbe Flasche Baileys, und erzähle: “Von diesem Likör, der runter geht wie Öl, habe ich über Weihnachten schon zwei Flaschen vernichtet. Wie ging doch der Spruch von Wilhelm Busch: “Wer Sorgen hat, hat auch Likör.” Er erwidert mir: „Ganz schön gefährlich. Durch den Pralinengeschmack merkt man den Alkohol nicht”, nimmt Pizza und Flasche, und geht wieder nach oben, anstatt an Silvester durch die Diskos und Kneipen zu streifen und nach der Frau seines Lebens zu suchen. Ich sehe ihn nächstes Jahr an Silvester auch noch löten.

Ich gehe noch ins Zebrano. Einmal, als ich dort frühstückte, enterte ein Team von “Gute Zeiten Schlechte Zeiten” das Lokal. “Keine Angst, du bist nicht mit auf dem Film,” beruhigten sie mich, und verschwanden genauso urplötzlich, wie sie aufgetaucht waren. “Ich bin ihnen wohl nicht schön genug”, ging es mir durch den Kopf.

Im Zebrano legen zur Feier des Tages diesmal der Student und seine Freundin, die sonst immer hinter dem Tresen sind, Platten auf. Ich befürchte, dass ich wieder Techno aufs Ohr gedrückt bekomme. Es stellt sich aber raus, dass ihnen, obwohl sie erst Anfang Zwanzig sind, der Sinn nach der Musik der Fünfziger steht.

So sitze ich denn mit “Cry me a river” von Julie London und ähnlichen Sirenenstimmen im Ohr und Coctails in der Hand, die sie hier immer sehr gehaltvoll mixen, an der Bar und schaue in einen kleinen Fernseher, in dem, ohne Ton, Elvisfilme laufen. “Mann, hat Elvis einen Haufen blöde Filme gemacht. Aber für jetzt und hier ist es genau das Richtige”, finde ich, und ich fühle mich ob der ganzen Jugend um mich rum selber wieder in Studentenzeiten versetzt. “So lässt man sich das Leben gefallen”, denke ich. 

Es ist Silvester, Silvester am Ostkreuz, und draußen gehen die Neujahrsraketen hoch. Zweitausendvierundzwanzig ist angebrochen.

Ein gesundes Neues Jahr für alle wünscht Tanja.

Wir Berliner lassen uns nicht unterkriegen, und kommen auch “allene” klar.