Das Sozi am Bersarinplatz
Hunde mit Halstüchern
Schon seit langem vermisst man an der Vorderfront des Gebäudes die Horde aus Punkerhunden mit einem Tuch um den Hals, die dort immer angeleint waren und einen zwar frech anbellten, wenn man sich durch sie hindurch zur Treppe drängelte, ansonsten aber die Sanftmut selber waren. “Meinen Hund hat man mir vor dem Sozi gestohlen”, erzählte mir mal ein Punk im Attentat in der Kinzigstraße. “Wer klaut denn schon Hunde?”, wunderte ich mich.
Eines schönen Tages, der aber auch schon wieder ein Weilchen zurückliegt, sprach mich auf der Warschauer ein Mann mit einem Turban an, den ich für einen Inder halten würde. “Where is here the Social welfare office?” Da war er an genau die Richtige geraten, denn dieses Gebäude am Bersarinplatz kannte ich nur zu gut. Ich wusste gar nicht, dass sich darin immer noch ein Sozialamt befand, und dass es überhaupt noch solche Ämter gab. Ich hatte mir schon Gedanken gemacht, was die ganzen Mitarbeiter, darunter auch meine Sachbearbeiterin, bei der ich lange war, jetzt so machen. Auf ihrem Schreibtisch stand ein Bild von einem Mädchen. Ich denke, sie war eine Alleinerziehende wie viele der Frauen, die ihr gegenübersaßen.
Ich glaube, niemand gab gern zu, dass er Sozi bezog. Eigentlich wollte ich gar keinen Beitrag über diese Zeit verfassen, denn ich bin da nicht stolz drauf, aber da jemand, die früher in unserem Team war, auch die Chuzpe hatte, über ihre Erfahrungen mit dem “Sozi” in Kreuzberg zu berichten, das damals im Bethanien seine Zelte aufgeschlagen hatte, möchte ich auch nicht zurückstehen und über unseres in Friedrichshain schreiben, dass nur ein paar hundert Meter Luftlinie vom Mariannenplatz entfernt war, auf der östlichen Seite der Spree.
Und außerdem hat sich Regisseur Oskar Roehler ja auch dazu bekannt, dass er, der mit Anfang Zwanzig aus Franken nach Moabit kam, in seiner ersten Zeit in Berlin von Stütze lebte.
“...Außenwandzuschusspauschale, Verhütungsmittelpauschale. Das macht Eintausendvierhundertfünfundsiebzig Mark”, sagt der Beamte mit Brille und Westover zu Robert und unterschreibt einen Zettel. Diese Szene ist aus seinem Film “Tod den Hippies. Es lebe der Punk.” und spielt 1981 in einem Sozialamt in West - Berlin.
Nach Mauerfall habe ich damit auch meine Erfahrungen gemacht. Im Jahr 91 lief ich das erste Mal am Bersarinplatz auf. So viel Geld auf einmal, wie die Hauptfigur Robert aus dem Film, habe ich aber nie bekommen. Und eine Verhütungsmittelpauschale gab es auch nicht bei uns. Ich habe aber mal gehört, dass jemand in der Fröbelstraße, im Sozialamt vom Prenzlauer Berg, erfolglos versucht hat, Geld für Kondome zu beantragen.
Mit so einer Vorgeschichte, wie das Haus dort, konnte unser Amt am Bersarinplatz, ein schlichter Neubau aus DDR-Zeiten, nicht aufwarten. In der Fröbelstraße dagegen war die Behörde in einem Gebäudekomplex untergebracht, in dem sich von 1886 bis 1940 die größte Obdachlosenunterkunft der Stadt Berlin befand. Manchmal übernachteten 5000 Leute dort.
Einmal stürzte aus einer der Türen auf dem Flur, auf dem ich wartete, eine verheulte junge Frau, die wohl gerade Sanktionen erhalten hatte und nun nicht wusste, wie sie über die Runden kommen sollte.
Das kannte ich. Manchmal musste auch ich ohne Geld abziehen und den Topf mit Hülsenfrüchten, der noch auf dem Herd stand, wieder aufwärmen. Ich habe einen Haufen Kürzungen bekommen, und musste ich sogar vor das Verwaltungsgericht, damit eine Sperre aufgehoben wird. Meistens ging es dabei um Gemeinnützige Arbeit, kurz GZA. Im Empfang des Gerichts, zu dem mich die zwei Sozialarbeiter der Beratungsstelle am Bersarinplatz geschickt hatten, nahm ein hilfsbereiter Referendar meine Klage auf, und ich fuhr mit einem Wachmann in einem gläsernen Fahrstuhl nach oben, zu einem Zimmer, wo ich diese in einer Sammelstelle einreichen musste. Das imposante Gebäude schüchterte mich mächtig ein.
Ein paar Wochen danach erhielt ich einen gelben Umschlag per Post zugestellt. Das Urteil war in einem verschachteltem Amtsdeutsch abgefasst, dass ich nicht verstand, aber jemand, der aus Westberlin kam und mit so was Erfahrung hatte, sagte mir, dass dort stand, dass ich gewonnen habe. Mir fiel ein Stein vom Herzen. “Das ist also ist die Demokratie, von der immer so viel geredet wird”, dachte ich.
Zur Gemeinnützigen Arbeit wurde ich ein paarmal auf den Friedhof in Alt Stralau geschickt. Dort harkte ich Beete mit den anderen. Wir besahen uns die Grabsteine. Eine Frau hatte es kurz vor ihrem Hundersten erwischt. “Die paar Tage hätte sie ja noch dranhängen können”, meinte einer, der auch GZA machte.
Er erzählte: “Auf einem anderen Friedhof hat der Chef gleich am ersten Tag zu mir gesagt: “Einen Tag bringst du eine Flasche mit, den anderen ich. Wir sind nur rausgegangen, wenn Beerdigungen waren.”
Einmal meinte jemand zu mir: “Mir wäre das unheimlich, dort auf dem Friedhof zu arbeiten”. Das machte mir nichts aus. Mit den Lebenden hatte ich mehr Probleme.
Wenn ich eine Kürzung bekommen hatte, ging ich, anstatt zum Schallplattenkauf das Freak Out in der Rykestraße anzusteuern, lieber zum CD-Verleih in die Hagenauer und überspielte mir Kassetten. Musik war mein Lebenselixier.
Den Kindern, die in den Kinderwägelchen saßen, die auf den Gängen rumstanden, gefiel es hier nicht, und sie gaben ihrem Missmut darüber auch lauthals Ausdruck. Das konnte schon an den Nerven zerren. Obwohl sie noch so klein waren, spürten sie schon die schlechte Stimmung, und dass die Leute, die hier saßen, nicht auf der Sonnenseite des Lebens standen.
Einmal, als ich wartend auf dem Flur saß, kam ein Handwerker im Arbeitsanzug, der wohl eine Reparaturarbeit im Gebäude ausgeführt hatte. Seine Anwesenheit hier war ihm sichtlich peinlich, und er dachte wohl, dass er sich deswegen rechtfertigen muss. “Ich bin bloß hier, weil ich eine Unterschrift für meine Rechnung brauche”, versuchte er sich von den Leuten zu distanzieren, die hier saßen, um ja nicht mit uns in einen Topf geworfen zu werden.
Wer das Amt cool nahm, waren die Punker. Die saßen einem entspannt gegenüber und lachten einen an, was meine Stimmung jedes Mal hob. “Hoffentlich kriegen sie sie eines Tages nicht doch noch klein”, ging es mir durch den Kopf. Ich dachte da an den Trupp bleicher Gestalten, die auf der Skalitzer Straße mal vor mir herliefen. Wie ich ihrem Gespräch entnehmen konnte, bewegten sie sich in Richtung Methadonausgabestelle. Wo kommen wir hin, wenn sich die Leute, die nicht so ins System rein passen, selbst ins Abseits befördern? Aber vielleicht sind ja die Punker, die mir damals gegenübergesessen haben, heute Filmregisseure.
Feten, wie sie am Zahltag im Sozialamt in Kreuzberg stattgefunden haben, wovon mir Mecki erzählt hat, der ehemalige Sänger von den Testbildtesters, eine Westberliner Punkband, habe ich dort auf den Gängen aber nicht erlebt.
Ich traf hier auch öfter Leute aus den besetzten Häusern. Dort taten sie immer alle so, als wenn sie super klar kommen. Aber so einfach war das eben doch nicht, sich weit entfernt von der bayrischen Heimat in Berlin über Wasser zu halten. Ich hatte mich zu Anfang noch darüber gewundert, dass, wenn man in den Besetzerkneipen das Gespräch darauf brachte, wovon der andere lebt, die Frage nicht so gut aufgenommen wurde. Bei uns war das zu Ostzeiten nie ein Tabuthema gewesen. Später gewöhnte ich es mir ab, danach zu fragen.
Aber eigentlich war das Sozi ein angenehmer Ort. Man ging mit knurrendem Magen rein, denn die letzte Kohle war längst aufgebraucht. Heraus kam man hocherhobenen Kopfes, mit Geld in der Tasche und steuerte gleich den nächsten Imbiss an.
Zu Haus war Tags zuvor die letzte Büchse Linsen mit Suppengrün, es gab davon auch noch Bohnen und Erbsen, aber ich kaufte meist die Linsen, geöffnet worden, die damals bei Kaiser´s neunundsiebzig Pfennige kosteten, und nach denen man sich tief bücken musste, da sie im Regal immer ganz unten standen.
Zusammen mit Mirakuli, Nudeln, die sich mit eingeschweißter Tomatensoße, geriebenem Käse und einem Tütchen mit Gewürzen in einer Pappschachtel befanden und spottbillig waren, bildeten sie die Grundlage meiner Ernährung.
“Hast du mal zwei Mark?”, fragte mich jemand mal ausgerechnet eine Woche vor Zahltag. Drogenabhängige sind gute Menschenkenner und haben einen Riecher dafür, wen sie anschnorren können.
Damals kannte man das noch nicht, dass einen wildfremde Menschen so einfach auf der Straße ansprachen.
An diesem Tage, es war ein heißer Sonntag im Hochsommer, war ich trotz schlechter Finanzlage schwach geworden, und leistete mir auf der Schönhauser Allee zwei Kugeln Eis. Deswegen hielt er mich wohl für finanziell sorglos.
Ich fand es frech, dass er gleich einen Mindestbetrag festlegte. Als ich den Kopf schüttelte, sahen sowohl er wie auch der türkische Eisverkäufer mich vorwurfsvoll an, und ich hatte irgendwie ein schlechtes Gewissen.
Auf der Frankfurter Allee, in der Nähe der Gubener, wo ich wohnte, gab es damals einen Lebensmitteldiskount. Die Preise habe ich heute noch im Kopf. Dieser Laden hielt mich über Wasser. Ebenfalls das Kilo Bruchreis von Kaiser´s und die A&P Margarine, die beide nur neunundneunzig Pfennig kosteten.
Der beste Augenblick war immer der, wenn sie dir im Erdgeschoß, wo die Kasse untergebracht war, dein Geld auszahlten. Dort war mächtig Trubel, und die Mitarbeiter im Stress. Ein Mann und eine Frau unterhielten sich vor mir in der Schlange. “Wo ist dein Mann geblieben?”, fragte er sie. “Der ist unter die Bahn”, war ihre Antwort.
Wir standen an mit unserem Auszahlschein in der Hand. Den legte man samt Ausweis in die muschelförmige Ausbuchtung der drehbaren Platte, die sich unter dem Sicherheitsglas befand. Auf der anderen Seite wurden dir dann ein paar Scheine draufgelegt, und die Scheibe drehte sich mitsamt ihrer angenehmen Last zurück.
Jedes Mal überlegte ich mir, dass dieser Arbeitsplatz ja eigentlich gar nicht so ungefährlich war. Viele Spitzbuben, vielleicht auch welche von denen, die dort anstanden, hatten die Kasse bestimmt schon als potenzielles Ziel ins Auge gefasst. Ich hätte mich gar nicht gewundert, wenn plötzlich jemand mit dem Ruf: “Alles auf den Boden”, mit einer Knarre in den Kassenraum gestürmt wäre. So kannte ich es aus Kriminalfilmen. Später, nachdem das SEK uns befreit hat, haben wir eine Menge zu erzählen, und am nächsten Tag lacht mich mein Bild von der ersten Seite der BZ an unter der Überschrift: “Sie überredete den Geiselnehmer zur Aufgabe”. Zum Glück ist während meiner Zeit nichts dergleichen passiert.
Bevor ich Sozialhilfe beantragen konnte, musste ich erst Mal zum Arbeitsamt in der Gottlindestraße, einem ehemaligen Stasigebäude, wo man jeden Augenblick erwartete, dass eine Tür aufging und Mielke herausspazierte, um mir bestätigen zu lassen, dass ich keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld habe, denn ich hatte die letzten Monate in der DDR nur als Pauschalkraft ausgeholfen, meist in Gaststätten, bei Narva und auf dem Postbahnhof am Ostbahnhof. Ich bestaunte die Paternoster, hatte aber Bammel und lief stattdessen doch lieber die Treppe.
Damals musste man noch eine Nummer ziehen. Auf dem Flur dort saß eine Frau, die sehr betrübt aussah. “Ich war Restaurantleiterin im Palast der Republik”, erzählte sie den anderen. “Wegen Asbestgefahr haben sie ihn zugemacht.” Das die Sache mit dem Asbest die wahre Ursache für die Schließung und Jahre danach für den Abriss war, glaubte niemand so richtig. Ich habe den Palast geliebt, besonders die Mokkabar und bin immer sehr gerne dort eingekehrt.
Das Ende meiner Besuche am Bersarinplatz kam, als ich einen geförderten Job erhielt. Ich musste dazu in ein Büro im obersten Stockwerk. Die Frau, die dort saß, bemühte sich sehr. Zuerst schickte sie mich in einen kleinen Bioladen im Prenzlauer Berg, wo eine Verkäuferin gesucht wurde. Der Besitzer hatte von dem EU-Projekt gehört und sich einverstanden erklärt, jemanden einzustellen, der Sozi bezog, wenn das Amt die Lohnkosten übernahm. Solche Läden gibt es heute kaum noch, da sich die großen Ketten durchgesetzt haben.
Als ich in den Laden eintrat, bemerkte ich, dass eine ehemalige Nachbarin aus der Gubener dort hinter der Ladentheke stand. “So sieht man sich wieder”, begrüßte sie mich. Als ich erzählte, warum ich hier bin und nach dem Inhaber fragte, antwortete sie: “Der ist nebenan” und sah mich irgendwie merkwürdig an.
Als ich ihren Chef kennenlernte, wurde mir klar, warum sie mich so komisch angesehen hatte. Da hatte wohl heute jemand schlechte Laune. Ich merkte sofort, dass es mit dem Job nichts werden würde. Er putzte mich runter, als er im Lebenslauf von meinem abgebrochenen Studium las. Er selber hatte angeblich zwei Diplome und einen Doktortitel. “Ist das nicht ein bisschen überqualifiziert?”, ging es mir durch den Kopf. “Ich gebe ihnen Bescheid”, sagte er. Wieder draußen, verabschiedete ich mich von der jungen Frau, die einmal bei uns im Haus gewohnt hatte. “Wir werden wohl keine Kolleginnen”, sagte ich.
Der zweite Bewerbungsversuch im Kiezcafe in der Wühlischstraße lief besser. Ich muss aber gestehen, dass ich da eigentlich zuerst gleich wieder raus wollte und die Eingangstür im Auge behielt, denn ich kam mit der gedrückten Stimmung, die mir entgegenschlug, nicht klar. Die entstand dadurch, weil sich auf engstem Raum viele Leute befanden, die in schwierigen Situationen steckten. Aber ich gewöhnte mich daran. Der Leiter des Cafés stellte mich nach den vierzehn Tagen Probe gleich ein. Die Arbeit machte Spaß. Ich lernte einen Haufen verrückter Leute kennen, manchmal sogar im wahrsten Sinne des Wortes, kam aber mit allen gut klar.
Ich staunte, das viele, die dort lebten, einen dicken Aktendeckel mit Papieren in ihrer Plastiktüte mit sich rumschleppten. Wenn sie aber die nicht gehabt hätten, hätte das Sozi ihnen gar nichts gezahlt. Außerdem konnten sie ihn unter der Brücke als Kopfkissen benutzen.
Später machte ich eine Umschulung zur Rechtsanwalts-Notariatsangestellten. Als ich mich das erste Mal bei einer Schule auf der Warschauer anmelden wollte, machte ich den Fehler, in meinen Lebenslauf reinzuschreiben, dass ich mal eine Weile Sozialhilfe bezogen hatte und wurde prompt abgelehnt, als einzige von fünfundzwanzig, mit denen zusammen ich die vierwöchige Einführungsveranstaltung besucht hatte. Ich ahnte vorher gar nicht, dass einen das stigmatisiert.
Das passierte mir nicht noch ein zweites Mal. So ließ ich das Wort Sozialhilfe in meinem Lebenslauf weg, und an der zweiten Schule, der Finanzakademie in der Neuen Bahnhofstraße, wurde ich angenommen. Übrigens, eine andere aus meiner Umschulungsklasse hat mir erzählt, dass sie das selbe Problem auch schon hatte.
Durch die Hartz IV Gesetze verloren die Sozialämter ihre Bedeutung. Alle Hilfesuchenden mussten nun zum Jobcenter.
“Das Sozi mochte ich lieber”, erzählte mir mal jemand. Ich denke, dass kommt daher, weil in dem riesigen Jobcentergebäude das Publikum viel gemischter ist als am Bersarinplatz, wo man sich aber heimischer gefühlt hatte, wenn man in Schwierigkeiten steckte, da die meisten hier auch nicht so aussahen, als wenn sie gerade mit Vollgas auf der Überholspur unterwegs waren.
Kurzbiografie Tanja
Ich bin 1962 in einem kleinen Dorf in Mecklenburg Vorpommern geboren worden und mit 19 nach Berlin gekommen. Ich übte viele verschiedene Tätigkeiten aus. Zuletzt war ich als Sekretärin tätig.
Zeitzeugeninterview mit Tanja