Zu meinen ersten Berlin-Eindrücken in den frühen 80er Jahren gehören Brücken. In diesem Fall die achtundzwanzig Yorckbrücken in Kreuzberg. Denn bevor man per Auto aus Westdeutschland kommend ins abendliche Kreuzberg eintauchte, mussten erst diese merkwürdig rostigen Gebilde unterquert werden. Heute weiß ich: das sind nur die Überbleibsel von ehemals 45 Eisenbahn-Gleissträngen. Ich erinnere mich gut: die Unterquerung zog sich ziemlich und war ähnlich dunkel wie die gesamte vorherige Anreise auf der DDR-Transitstrecke. Das war verblüffend, zumal ich ja nach Passieren der „Grenzübergangsstelle Drewitz-Dreilinden“ bereits in die Glitzerwelt der Großstadt eingetaucht war und eigentlich dachte, das dies auch weiterhin so schön hell bliebe. Und nun schon wieder diese triste Dunkelheit. War ich überhaupt noch im Westen? Eine durchaus berechtigte Frage. Später habe ich erfahren, dass diese restlichen Yorckbrücken und das dazu gehörig große Gleisbettumfeld Teile eines exterritorialen Geländes waren, das zu Ost-Berlin gehörte und von der DDR- Reichsbahn verwaltet und gesichert wurde. Diese betrieb das gesamte Berliner S-Bahn-Streckennetz und die Brücken waren ein Teil davon. Die Fahrbahn für den Straßenverkehr unter den Brücken war also Westen und die Gleise über unseren Köpfen waren Osten - was vom Eindruck her allerdings keinen sonderlich großen Unterschied machte. Beides schien mir ziemlich rostig. Nur gefühlt notdürftig gestützt wurden die Gleisanlagen von einer alten graugelben Klinkersteinmauer. Ein Durchlass beidseitig der Unterführung schien kaum möglich. Aber so einen kleinen Bretterverschlag gab es dann doch. Durch den konnte man zwischen wucherndem Dornengestrüpp das ca. fünf Meter höher gelegene Gelände erklimmen. Fast wie bei Alice, wo das Kaninchen mit ´nem großen Wecker Richtung Wunderland im Unterholz verschwindet. Sehr spannend!

Wir wußten damals nicht sonderlich viel über die Geschichte dieser verwilderten, weiträumigen Brache mitten in West-Berlin. Wir wußten nur von ungefähr, dass diese Gleiswildnis einst ein Rangier- und Umschlagbahnhof war. Aber um die Bedeutung, die diese Anlage für die Versorgung einer rasch anwachsenden Berliner Bevölkerung am Ende des 19. Jahrhunderts und später gehabt hatte war uns nichts bekannt. Wir wußten auch nicht, dass beim Verladen der Waren oft seltsam exotische Pflanzensamen aus den Jutesäcken fielen und diese mit verantwortlich waren für die üppige Vegetation um uns herum. In späteren Publikationen las ich von über vierhundert Pflanzen- und 110 heimischen Schmetterlingsarten.

Wir wußten damals eigentlich sowieso recht wenig. Das machte aber nichts. Des Nachts mit Freunden also durch den Bretterverschlag rauf auf das Gelände. Das Abenteuer mit Schlafsack mitten in freier Wildbahn wartete bereits auf uns- die Gleisanlagen waren nicht nur für Pflanzen und Tiere ein Paradies. Sterne gucken bis zum frühen Morgen. Feuerwasser, Erdnüsse, Chips und Anderes hatten wir stets dabei. Keep on „Rockin´in the Free World“. So war der Plan für die Nacht und er ist meistens auch gut gegangen. Nur einmal kam dann doch die Transportpolizei (TRAPO) der Reichsbahn vorbei. Und diesmal waren wir mit weit mehr als nur mit unseren Füßen im Realsozialismus (siehe meinen Text: „Bitte nehmen Sie Ihre Füße…) Es folgte wieder die bekannt forsch vorgetragene Aufforderung, das Hoheitsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik doch bitte zu verlassen. Das haben wir angesichts vorgehaltener Feuerwaffen dann auch besser getan. Feuerwasser und Feuerwaffen vertragen sich eher nicht. Soviel wußten wir dann doch.

Die Zeit nach Übernahme der S-Bahn 1984 durch die (West-) Berliner Verkehrsbetriebe BVG war deutlich entspannter. Nun ging bis in die frühen 90er auch ungestört Lagerfeuer. Allerdings nur wenig später war Berlin dann nicht mehr so spannend. Das leicht anarchisch angehaucht freie Lebensgefühl in der Stadt hatte sich aus dem Staub gemacht.

- Ho -

Kurzbiografie -Ho-

Winter 1988 – das Jahr meines Umzuges aus dem Niedersächsischen nach West-Berlin. Zu dieser Zeit fühlte sich hier noch niemand so recht angesprochen von den Turbulenzen rundherum. Bekanntermaßen änderte sich das aber ziemlich bald. Was für mich bedeutete: als zugereister Wessi war ich zur rechten Zeit am richtigen Ort, um bald viele neue Erfahrungen machen zu können. Ich habe in einer mir damals recht fremden Stadt den ganzen Schwung der Wende-Zeit ab 1989 live erleben dürfen. Kreuzberg, Neukölln, Moabit: das waren die ersten Stadtbezirke, die ich auf meiner Wohnungssuche durch die damaligen Westsektoren der Stadt kennenlernte. Den größten Teil dieser mittlerweile 32 Jahre (Stand 2021) wohne ich aber in Kreuzberg. Hier zog es mich wieder hin, hier lebe, wohne und arbeite ich noch heute. Viel habe ich in diesen Jahren in meinem Kiez, seiner näheren Umgebung und später auch in Friedrichshain erlebt. Große Geschichten, kleine Episoden, mal skuril, mal sehr bedeutend, aber immer mittemang und authentisch. Anfangs etwas wilder, später etwas milder. Davon berichten meine Texte.