Bis Ende der Neunziger war es sehr angesagt, sich auf Berliner Dächern zu treffen (siehe die Geschichte > Milleniumnebel). Die Dächer gehörten oft zu leerstehenden oder besetzten Häusern, manchmal auch zu Häusern mit schon legalisierten Mietverträgen oder zu frisch gegründeten Genossenschaften/ Vereinen. Auf einer dieser Veranstaltungen fand eine Modenschau von Kreuzberger Modelabels statt. Die Einladung kam von meiner damaligen Liebsten, die gut mit Schere, Abstecknadeln und neuen Kleiderschnitten umgehen konnte. Vor Ort produzierte, sehr innovative und witzige Kleiderschnitte waren zu sehen. Dem Anlass entsprechend ging es nicht ganz ohne Prickelbrause, also Sekt. Bierkästen haben wir aber auch hochgeschleppt - war ja immer noch Kreuzberg und nicht Mitte. Erst einmal hatten wir Glück: es war eine wunderbare Nacht, entspannte Musik und die Klamotten sahen echt Klasse aus. Auch fand ich, das meine Liebste darin irgendwie noch aufregender aussah. Der Laufsteg aus Euro-Paletten, belegt mit alten Teppichen, war gesäumt mit Feuerpfannen.

In dieser Nacht hatte aber auch ich meinen Auftritt: als Vorleser. Ich war damals mit einer etwas düsteren Stimmungslage als heute im Jahr 2021 unterwegs und da kam mir dieses Buch von Christoph Ransmayr sehr gelegen mit dem Titel: „Die letzte Welt“. Daraus durfte ich eine kleine Passage vorlesen, die ich für den Ort, die Veranstaltung und überhaupt für diese Zeit des ständigen Wandels irgendwie sehr passend fand: unter mir zehn, vielleicht fünfzehn unbehauste Wohnungen, alle ohne Stromanschluss, kein Wasser und ich hier oben im rauchigen Feuerschein, der Himmel von Berlin über mir und die Engel vor mir auf dem Laufsteg. Hier ein Buchauszug:

„Trachila: Diese eingebrochenen Mauern aus Kalkstein, Erkerfenster, aus denen Föhren und Krüppelkiefern ihre Äste streckten, diese geborstenen, in rußgeschwärzten Küchen, in Schlaf- kammern und Stuben gesunkenen Dächer aus Schilf und Schiefer, und die im Leeren stehen gebliebenen Torbögen, durch die hindurch nur noch die Zeit verflog, das mussten einmal fünf, sechs Häuser gewesen sein, Ställe, Scheunen…
Und aus dieser Wildnis ragten Steinmale auf, Dutzende schlanker Kegel, mannshoch die größten, die kleinsten reichten Cotta kaum an die Knie. An den Kegelspitzen flatterten  Stofffähnchen, es waren in Streifen geschnittene Kleider, und als Cotta an eines der kleineren Steinmale herantrat, sah er, das die Fähnchen Schriftzüge trugen…und Cotta las:
Keinem bleibt seine Gestalt.“

Besonders dies Letzte fand ich gut: KEINEM BLEIBT SEINE GESTALT

Es bleibt nichts wie es ist. Dafür sorgte auf sehr triviale Art etwas später der Hausmeister der benachbarten Schule. Dem war das Spektakel auf dem Nachbardach nicht ganz geheuer. Bevor alle trunkener wurden und das mit dem Feuer ausartete, empfahl er uns den geordneten Abzug, bevor er die Polizei rufen würde. So freundlich war er immerhin…

...Schön war et jewesen…

-Ho-

Kurzbiografie -Ho-

Winter 1988 – das Jahr meines Umzuges aus dem Niedersächsischen nach West-Berlin. Zu dieser Zeit fühlte sich hier noch niemand so recht angesprochen von den Turbulenzen rundherum. Bekanntermaßen änderte sich das aber ziemlich bald. Was für mich bedeutete: als zugereister Wessi war ich zur rechten Zeit am richtigen Ort, um bald viele neue Erfahrungen machen zu können. Ich habe in einer mir damals recht fremden Stadt den ganzen Schwung der Wende-Zeit ab 1989 live erleben dürfen. Kreuzberg, Neukölln, Moabit: das waren die ersten Stadtbezirke, die ich auf meiner Wohnungssuche durch die damaligen Westsektoren der Stadt kennenlernte. Den größten Teil dieser mittlerweile 32 Jahre (Stand 2021) wohne ich aber in Kreuzberg. Hier zog es mich wieder hin, hier lebe, wohne und arbeite ich noch heute. Viel habe ich in diesen Jahren in meinem Kiez, seiner näheren Umgebung und später auch in Friedrichshain erlebt. Große Geschichten, kleine Episoden, mal skuril, mal sehr bedeutend, aber immer mittemang und authentisch. Anfangs etwas wilder, später etwas milder. Davon berichten meine Texte.