Es war wieder eine dieser sommerlich wunderbaren Abendstimmungen. Warm, mildes Licht und alles sehr still und friedlich um mich herum. Ich saß vor mich hinträumend auf dem „Evangelischen St. Petri-Friedhof“ unterhalb des Volkspark Friedrichshain. Von hier aus, am oberen Ende des Hanges hatte ich einen schönen Überblick. Mit den kleinen Feuern in den Müllbehältnissen hatte ich nix zu tun, ehrlich. Habe nur ganz fasziniert der Rauchentwicklung an den unterschiedlichen Plätzen zugeschaut und die angeleuchteten Wolken bestaunt. Und natürlich gedacht an schöne unbehelligte Lagerfeuerabende mit Blick auf den Fernsehturm im damals noch fast autofreien Berliner Scheunenviertel der frühen Wendezeit.

Und auch als die Feuerwehr anrückte, wähnte ich mich immer noch in der Rolle eines unbeteiligten Zuschauers. Bis ein Feuerwehrmann kam und fragte, ob ich hier schon länger säße und Zigaretten rauchen würde… ? Erst als dann am Eingang auch noch Polizei auftauchte, wurde mir meine prekäre Situation als potentiell identifizierter Brandstifter klar. Ich hatte ja noch nicht einmal meinen Berliner „Behelfsmäßigen Personalausweis“ dabei (das war der ohne Bundesadler und ohne Zusatz >Bundesrepublik Deutschland<). Ging aber alles gut, die Polizei ließ mich in Ruhe. Was mich schon ein wenig wunderte.

Aber dann fiel mir doch noch etwas auf: einige Uniformen kam mir sehr bekannt vor, andere eher nicht und auch die Feuerwehrleute kamen mir etwas fremd vor. Was versammelte sich da also gerade vor meinen Augen auf einem Berliner Friedhof der Noch-Hauptstadt der DDR? Ich schaute genauer hin und sah Polizei und Ordnungsamt aus Westberlin und Volkspolizisten und Feuerwehr aus Ostberlin. Ich hatte just mein erstes Erlebnis eines gesamtdeutschen Ordnungshüter-Einsatzes!

Im Nachhinein glaube ich, die haben von einer Personalienaufnahme nur deshalb abgesehen, weil sie selber gar nicht wussten, wie sie hätten vorgehen sollen… Welcher Polizist nimmt meine Personalien auf? Jener aus dem Westen, der quasi im noch fremden Land sich nicht so richtig traute oder jener aus dem Osten, der auf vertrautem Boden sich ebenfalls nicht mehr traute? Denen fehlte irgendwie die Orientierung und wohl auch präzise Anweisungen aus ihren immer noch real existierenden Parallel-Verwaltungen. Die Unschlüssigkeit war bis zu meinem Aussichtsplatz zu spüren. Auf das Löschen der Mülleimer haben sie sich aber immerhin einigen können.

Eigentlich eine sehr anarchische Situation. In einem kleinen Zeitfenster war in Berlin so Einiges möglich...und  recht unklar. Zum Beispiel eben die Geschäftsbereiche und Kompetenzen der diversen Ordnungskräfte aus Ost und West. Und obwohl das „Vier-Mächte-Abkommen“ für Berlin noch galt, waren weder von US-amerikanischer, englischer, französischer oder russischer Seite irgendwelche größeren Anstrengungen erkennbar, das öffentliche Leben sicherheitshalber mehr als notwendig zu regeln. Schien ja auch nicht nötig...Gefühlt kein Gesetz über Niemandem und trotzdem war alles recht friedlich. Aber vielleicht war es so ja auch gar nicht. Meine Stimmung aber es aber schon. Da habe ich lange drüber nachgedacht. Und als ich zu Ende gedacht hatte, war es mit diesem kurzen Sommer der Anarchie auch schon vorbei. Schade eigentlich.

-Ho-

Kurzbiografie -Ho-

Winter 1988 – das Jahr meines Umzuges aus dem Niedersächsischen nach West-Berlin. Zu dieser Zeit fühlte sich hier noch niemand so recht angesprochen von den Turbulenzen rundherum. Bekanntermaßen änderte sich das aber ziemlich bald. Was für mich bedeutete: als zugereister Wessi war ich zur rechten Zeit am richtigen Ort, um bald viele neue Erfahrungen machen zu können. Ich habe in einer mir damals recht fremden Stadt den ganzen Schwung der Wende-Zeit ab 1989 live erleben dürfen. Kreuzberg, Neukölln, Moabit: das waren die ersten Stadtbezirke, die ich auf meiner Wohnungssuche durch die damaligen Westsektoren der Stadt kennenlernte. Den größten Teil dieser mittlerweile 32 Jahre (Stand 2021) wohne ich aber in Kreuzberg. Hier zog es mich wieder hin, hier lebe, wohne und arbeite ich noch heute. Viel habe ich in diesen Jahren in meinem Kiez, seiner näheren Umgebung und später auch in Friedrichshain erlebt. Große Geschichten, kleine Episoden, mal skuril, mal sehr bedeutend, aber immer mittemang und authentisch. Anfangs etwas wilder, später etwas milder. Davon berichten meine Texte.