Es ist mal wieder der 1. Mai in Kreuzberg, früher Abend im Jahr 2020 - Coronazeiten. Ich stehe unter einer kleinen Brücke trockenen Fußes im staubigen Flussbett des ehemaligen „Luisenstädtischen Kanals“. Über mir ein genietetes Gewölbe, das auf den Namen „Waldemarbrücke“ hört. Neben mir ein verlassenes Schlaflager. An mir vorbei flanieren Menschen, zumeist im schwarzen Kreuzberger Ausgehlook. Ich träume und stelle mir vor:

gleich könnten die Wasser kommen und alles wegspülen. Aber hier gibt es nirgends einen, der auf den Namen Noah hört und ein rettendes Schiff dabei hätte... Also klare ich im Urbanhafen mein eigenes Boot auf. Vor mir der besagte Kanal und ein Stück Spree. Da reichen vorerst die Solarpaneele. In der Havel wird es dann Zeit, die Segel zu setzen und dann kurz vor der Elbe kommt der Wind schon aus Nordwest... Grüß‘ mir Gorleben und das Wendland am schönen Elbestrand! Hamburg wartet... Ein schöner Törn von West nach Ost nach West: alles wieder möglich. Gut, auf dem kleinen Kreuzberger Teilstück fehlt das Wasser, aber ansonsten?

Allet schick im Traum!

Alles schick? „Der Traum ist aus! Doch ich werde alles tun, damit er Wirklichkeit wird“: die alte Parole der Berliner Rockband „Ton Steine Scherben“. Wann passt sie besser als am 1. Mai? Aber wo sind sie, die vielen tapferen Kämpfer aus vergangenen Zeiten? Eine Frau „spaziert“ mit sich alleine: auf ihrem Regenschirm kleben Parolen, die Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit fordern. Warum ist mir eigentlich nichts Aufmüpfiges eingefallen in dieser Zeit der arg eingeschränkten Grundrechte?

Ein wenig später stehe ich vor der „Henne“, diesmal oben an der Waldemar-Brücke. Die Brathähnchen aus diesem Kreuzberger Traditionsladen konnten früher wohl noch am ehesten mit dem Friedrichshainer Ost-Broiler vom „Hühner Gust´l“ in der Grünberger Straße mithalten. Ich sehe gut zwei Dutzend junge „Internationalistas“, ihre medizinischen Masken vorschriftsmäßig über Mund und Nase. Für sie scheint das Vermummungsverbot aufgehoben. Die uniformierte Brückenwache der Bundespolizei hingegen steht unvermummt zu acht schön dicht beieinander in Kette. Verdrehte Zeiten! Etwas weiter weg wieder fünf Menschen „die für die Freiheit fochten und für das Bürgerglück“. Sie wiederum korrekt im angeordneten Pandemie-Abstand. Die Brückenwächter sind durchaus freundlich entspannt. Eine pandemische Situation wie diese war zwar nie vorgesehen. Aber sie wissen: dank der Anwendung des schnell angepassten Infektionsschutzgesetzes werden sie diesmal die Nacht über weniger Arbeit haben. Hätte nie gedacht, die konkrete Anwendung dieses Gesetzes mal live erleben zu müssen. Darüber hinaus wäre mir für diese Situation auch eher die Anwendung der 1968 verabschiedeten Notstandsgesetze in den Sinn gekommen.

Aber noch etwas anderes fällt mir auf: ob den (ortsfremden?) Polizisten bewusst ist, dass sie auf dem alten Berliner Grenzmauerstreifen stehen, der exakt hier auf der Brücke verlief? Und dass sie gerade allen Menschen, die seitlich der Brücke von Ost nach West, von West nach Ost ihres Weges ziehen möchten, dies untersagen? Ich musste nicht genauer hinschauen: DDR-Grenztruppen sind das nicht, die sind weg.

Und hier ist er noch einmal, dieser Traum…                                     

-Ho-

Kurzbiografie -Ho-

Winter 1988 – das Jahr meines Umzuges aus dem Niedersächsischen nach West-Berlin. Zu dieser Zeit fühlte sich hier noch niemand so recht angesprochen von den Turbulenzen rundherum. Bekanntermaßen änderte sich das aber ziemlich bald. Was für mich bedeutete: als zugereister Wessi war ich zur rechten Zeit am richtigen Ort, um bald viele neue Erfahrungen machen zu können. Ich habe in einer mir damals recht fremden Stadt den ganzen Schwung der Wende-Zeit ab 1989 live erleben dürfen. Kreuzberg, Neukölln, Moabit: das waren die ersten Stadtbezirke, die ich auf meiner Wohnungssuche durch die damaligen Westsektoren der Stadt kennenlernte. Den größten Teil dieser mittlerweile 32 Jahre (Stand 2021) wohne ich aber in Kreuzberg. Hier zog es mich wieder hin, hier lebe, wohne und arbeite ich noch heute. Viel habe ich in diesen Jahren in meinem Kiez, seiner näheren Umgebung und später auch in Friedrichshain erlebt. Große Geschichten, kleine Episoden, mal skuril, mal sehr bedeutend, aber immer mittemang und authentisch. Anfangs etwas wilder, später etwas milder. Davon berichten meine Texte.