Dieser Teil des Jüdischen Museum Berlin (JMB) wurde 2012 eröffnet. Der Architekt ist Daniel Libeskind. Ich denke, das Projekt ist als Ergänzung zu seinem realisierten Entwurf auf der gegenüberliegenden Seite der Kreuzberger Lindenstraße gedacht. In der umgebauten Halle des ehemaligen Blumengroßmarktes ist es tageslichthell und auch die Blumen sind nicht wirklich weg. Auf vier Hochbeeten wird gepflanzt, gegossen und gejätet. Hier ist seit 2016 die „W. Michael Blumenthal Akademie“ beheimatet. Rings um den Lichthof mit seinen großen, denkmalgeschützten Oberlichtfenstern sind Bibliothek, Archiv, Büros und Veranstaltungsräume untergebracht. Ebenfalls gibt es WorkshopRäume, in denen Bildungsangebote für Kinder, Jugendliche und Lehrer stattfinden. Das neue Kindermuseum „ANOHA“ mit dem Thema der Arche Noah im hinteren Bereich der Halle ist fertig, hat aber wg. Corona noch kein einziges Besucherkind gesehen.

Alles sieht hier viel optimistischer aus als im Museumsneubau gegenüber. Ich bin im Sommer gerne an diesem Ort. Der Lesesaal mit Freihandbereich und Zeitschriften ist zumeist wenig besucht. Als ich das erste Mal in diesem lichtdurchfluteten Indoor-Garten stand habe ich mich gefragt, was es denn mit diesen Hochbeeten und den vielen sehr unterschiedlichen Gewächsen auf sich hat. Hier meine Geschichte dazu:

Ich habe nicht wirklich diesen „Grünen Daumen“, der mich vertraut mit Pflanzen umgehen lässt. Ganze drei Topfpflanzen begleiten mich durchs Leben, neuerdings in vier Blumenkästen auch Lavendel. Letzten Sommer (2020) hatte ich mich aushilfsweise bereit erklärt, für Freunde einen Schrebergarten täglich zu wässern. Welch neue Erfahrung! Dieser Garten sah tatsächlich jeden Abend immer etwas anders aus: mal war es irgendein für mich namenloses Struttchen, das sich über Nacht und Tag verwandelt hatte. Oder plötzlich war da eine leuchtende Blume, die gestern nicht da war... Tja, und jetzt freue ich mich im Februar schon auf den sommerlichen Lavendelduft und die Besucherhummeln am Fenster... Offensichtlich musste bei mir erst mehr Lebenserfahrung her, um einfache Wahrheiten des Weltenlaufes etwas mehr  würdigen zu können. Ich merke da eine Veränderung bei mir. Aber was hat diese Geschichte denn nun mit dem Akademie-Bau zu tun? Und was mit dem Projektthema „Wandel“?

In diesem Schrebergarten fand ich blassrosa bis karminrot eine wunderschöne Blume. Meine Recherche ergab: vor nicht allzu langer Zeit ist diese Pflanze hierzulande eingewandert. Ein zugezogener Neubürger sozusagen. Ihr Name lautet „Indisches Springkraut“. Irgend ein Wind aus Sonstwo, vielleicht auch ein Zugvogel aus fernen Landen hatte sie wohl in diesen Garten getragen. Und ich dachte mir: das ist ihr Versuch, verstreut im weiten Weltenrund heimisch zu werden. Aber obwohl gehaltvoll an Nektar und bei Bienen und Hummeln gleichermassen sehr beliebt, wurde sie als Fremde dennoch nicht überall gleich willkommen geheißen. Auf der Website eines Naturschutzbundes las ich kritisch vermerkt die Geschichte von der Schulklasse, die von ihrem Lehrer angewiesen wurde, irgendwo im Schwäbischen bestimmte Blumenstände niederzutreten. Dergestalt sollte eine Ausbreitung nicht heimischer Pflanzen verhindert werden. Ich glaube, dass diese Anekdote etwas mit dem Garten zu tun haben könnte. Meine Erinnerung geht so:

Das erste Beet ist eine Art Experimentierfeld. Hier kann selber gepflanzt, umgetopft und per Kartenmaterial Bestimmungskunde betrieben werden. In den anderen drei Beeten wohnen viele „Zugezogene“, die irgendwann und oft nicht ganz freiwillig die Heimat verlassen hatten und in alle Welt zerstreut ein neues unsicheres Leben haben anfangen müssen...für die jüdische Kultur etwas sehr Bekanntes. In den Hochbeeten geht es um Vieles: um Anpassung und Widerständigkeit, um Integration, Wandel und Veränderung. So denke ich mir das und so ähnlich hat sich auch Daniel Libeskind geäussert.

Der offizielle Name für diesen Ort lautet „Garten der Diaspora“. Ich habe nachgeblättert*: der Begriff taucht in diesem Zusammenhang erstmals in der griechischen Textsammlung des Alten Testamentes auf (der Septuaginta) und heißt übersetzt nichts anderes als „Zerstreuung“.

Jetzt, im Jahr 2021 fallen mir beim Formulieren dieses Textes zwei Bilder ein, die ich bei meinem Besuch so um das Jahr 2016 noch nicht hatte: Kreuzberg kann einerseits für mich mein Zuhause sein. Da brauche ich nicht unbedingt groß drüber nachzudenken. Für andere kann es wiederum die Fremde, die Diaspora sein. Die müssen vermutlich schon etwas mehr nachdenken. Aber vielleicht geht es auch andersherum: die Beete symbolisieren die Rückkehr aus der Diaspora. Dann wäre es das Wieder-Zusammen-Kommen-Können nach der Zerstreuung. Für ein gewandeltes Berlin ohne Mauer ein ganz schönes starkes Bild.

Was ich unbedingt machen sollte: mal nachschauen, ob wirklich nur lauter „Zugezogene“ in den Beeten wohnen. Eine Mischung mit heimischen Gewächsen fände ich besser.

-Ho-

 


* Ja, richtig gelesen: ...altmodisch nachgeblättert in einem Buch… in meinem Altgriechisch-Deutschen Schulwörterbuch von 1904

Kurzbiografie -Ho-

Winter 1988 – das Jahr meines Umzuges aus dem Niedersächsischen nach West-Berlin. Zu dieser Zeit fühlte sich hier noch niemand so recht angesprochen von den Turbulenzen rundherum. Bekanntermaßen änderte sich das aber ziemlich bald. Was für mich bedeutete: als zugereister Wessi war ich zur rechten Zeit am richtigen Ort, um bald viele neue Erfahrungen machen zu können. Ich habe in einer mir damals recht fremden Stadt den ganzen Schwung der Wende-Zeit ab 1989 live erleben dürfen. Kreuzberg, Neukölln, Moabit: das waren die ersten Stadtbezirke, die ich auf meiner Wohnungssuche durch die damaligen Westsektoren der Stadt kennenlernte. Den größten Teil dieser mittlerweile 32 Jahre (Stand 2021) wohne ich aber in Kreuzberg. Hier zog es mich wieder hin, hier lebe, wohne und arbeite ich noch heute. Viel habe ich in diesen Jahren in meinem Kiez, seiner näheren Umgebung und später auch in Friedrichshain erlebt. Große Geschichten, kleine Episoden, mal skuril, mal sehr bedeutend, aber immer mittemang und authentisch. Anfangs etwas wilder, später etwas milder. Davon berichten meine Texte.