Ich sitze am Ufer der Spree, wieder einmal in der Abendsonne. Es müsste so um 1990 sein. Die Mauer ist weg. Neue, andere Zeiten sind angebrochen. Vor mir ragen die Reste der Brommybrücke aus dem Wasser. Der Brückenpfeiler im ehemaligen DDR-Grenzgebiet ist vom einsamen Enten- und Vogelrefugium mit Bäumchen rasch mutiert zur Partyinsel und Graffity-Experimentier-Raum. Die Aneignung unbesetzter Räume geht hierzulande recht schnell.

Der Brückenpfeiler ist Teil der ehemaligen Verbindungsbahn, die Berliner Kopfbahnhöfe auf einer Strecke von ca. elf Kilometern von 1851 bis 1871 miteinander verband: Görlitzer Bahnhof, Lausitzer Platz, Eisenbahnstraße, Brommystraße/ Brommybrücke, Rummelsburger Platz, Postbahnhof/ Wriezener Bahnhof. Immerhin sind drei Bahnhöfe und zwei Plätze im Spiel… Die Spreequerung an dieser Stelle kann damals also nicht so ganz unwichtig gewesen sein. Und richtig: eine Brücke für die direkt an dieser Verbindungsbahn liegende „Berliner Heeresbäckerei“ machte schon irgendwie Sinn: ab 1850 erst eine Holzkonstruktion, dann eine steinerne Variante, die von 1909 bis zur ihrer Sprengung 1945 (> Nerobefehl am 19.03.1945) existierte….

Auf welcher Seite des Ufers sitze ich? Dieses erste Mal geht der Blick von Ost nach West, also von Unbekanntem hinüber zu meinem bekannten Kreuzberg. Eigentlich ist es ja eher ein Blick vom Norden in den Süden. Schon interessant, wie Himmelsrichtungen durcheinander geraten können. In jedem Fall ist es eine Premiere für mich, wie zu dieser Zeit so manches Andere auch. Um überhaupt an diesen Platz zu kommen, musste ich mich durch die Reste der Grenzanlagen kämpfen(!). Also erst einmal Spannung und ein bisschen Adrenalin. Hat hier eigentlich schon mal ein Munitions-Räumdienst vorbeigeschaut? Am Ufer angekommen habe ich aber recht bald das doch sehr entspannte Lied von Otis Redding in den Ohren:

 „Sittin´ on the Dock of the Bay“.

30 lange Jahre später schaue ich wieder über die Spree. Diesmal aber von der Kreuzberger Seite. Dort, wo Otis und ich mal hockten, steht jetzt ein futuristisch anmutendes Hochhaus. Auf dem alten Brückenpfeiler in der Spree steht immer noch das Bäumchen wie ich es aus vergangenen Zeiten noch in Erinnerung habe. Mir scheint, dass der Architekt des Hochhauses nach Bezugspunkten im Stadtraum gesucht haben muss- und mit dem Bäumchen tatsächlich auch eine Antwort gefunden hat: Auf den Balkonen seines Hochhauses zähle ich aktuell acht weitere Bäumchen. Oder war es eine gestalterische Vorgabe des Bezirkes, die erfüllt werden musste, um die Baugenehmigung zu erhalten? Nach all den vielen Neubauten auf der anderen Seite frage ich mich unwillkürlich: was hat sich auf der Kreuzberger Seite getan? Die Antwort ist erstaunlich simpel: eigentlich nicht viel. Die Brommystraße hat immer noch ihr altes Kopfsteinpflaster und der Bürgersteig ist immer noch rissig. Selbst die neue Aussichtsplattform am Ende der Straße zitiert alte Westberliner Gewohnheiten: winken und warten, ob jemand zurück winkt...

Apropos Bezirk: tatsächlich gibt es Planungen, an gleichem Ort wieder eine Brücke zu bauen. Diesmal allerdings nicht für den Transport von Brötchen, Zwieback und Kommissbrot. Ganz im Stil der neuen Zeit soll es eine überdachte >Eventbrücke< werden. Der Entwurf eines innovativen Architekturbüros lehnt sich an das Logo einer sehr bekannten Rockband älteren Datums an, das der „Rolling Stones“. Wie wichtig könnte diese Verbindung für den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg werden? Ob die Brücke wirklich für Fußgänger und Radfahrer ständig benutzbar sein wird, oder nur für Veranstaltungen geöffnet wird, scheint jedenfalls noch nicht entschieden zu sein. Selber bin ich mir auch nicht sicher, ob eine weitere Event-Location dem Bezirk wirklich gut tut...

Spannend finde ich jedoch, das dieses Projekt vielleicht ein Nachdenken über die Einbeziehung der Spree in Bezug auf Gestaltung und Nutzung unseres (?) Stadtraumes bewirkt. Immerhin knüpft die Planung, ob unbewusst oder bewusst, an die erste spontane Nutzung als Partyinsel nach Maueröffnung an. Mal sehen, was da passiert.

-Ho-

Kurzbiografie -Ho-

Winter 1988 – das Jahr meines Umzuges aus dem Niedersächsischen nach West-Berlin. Zu dieser Zeit fühlte sich hier noch niemand so recht angesprochen von den Turbulenzen rundherum. Bekanntermaßen änderte sich das aber ziemlich bald. Was für mich bedeutete: als zugereister Wessi war ich zur rechten Zeit am richtigen Ort, um bald viele neue Erfahrungen machen zu können. Ich habe in einer mir damals recht fremden Stadt den ganzen Schwung der Wende-Zeit ab 1989 live erleben dürfen. Kreuzberg, Neukölln, Moabit: das waren die ersten Stadtbezirke, die ich auf meiner Wohnungssuche durch die damaligen Westsektoren der Stadt kennenlernte. Den größten Teil dieser mittlerweile 32 Jahre (Stand 2021) wohne ich aber in Kreuzberg. Hier zog es mich wieder hin, hier lebe, wohne und arbeite ich noch heute. Viel habe ich in diesen Jahren in meinem Kiez, seiner näheren Umgebung und später auch in Friedrichshain erlebt. Große Geschichten, kleine Episoden, mal skuril, mal sehr bedeutend, aber immer mittemang und authentisch. Anfangs etwas wilder, später etwas milder. Davon berichten meine Texte.