Selbst für Kreuzberger Verhältnisse war das den ganzen Sommer 1989 eine ziemlich anarchische Performance: wilde Gesellen in selbstgenähten Kostümen kurvten auf selbst zusammengebastelten Vehikeln durch den „Görlitzer Park“. Der hieß zu der Zeit noch „Görlitzer Bahnhof“, war aber schon längst kein funktionierender Bahnhof mehr. Sie nannten sich selbst „Mutoid Waste Company“ MWC. Ich übersetze das mal frei mit „Müllverwertungsgesellschaft“. Die für den Zusammenbau notwendigen Materialien sammelte die Company zumeist auf Berliner Schrottplätzen ein. Über irgendwelche Wege sind sie auch in den Besitz eines ausgeschlachteten sowjetischen Kampfflugzeuges gekommen. Das stand dann recht martialisch in der damals noch hügeligen Sandwüste (oder war das die Sandwüste am Potsdamer Platz? Ich weiß es nicht mehr). Trucks und buntbemalte Wohnwagen bildeten die  Kulisse für diverse Aktivitäten: hämmern, sägen, akrobatische Drahtseilakte...hier entstanden auch der „Käfermann“ und der „PeaceBird“, von denen später noch die Rede sein wird. Im staubigen Abendlicht kam noch Funkenflug dazu, der beim Schweißen entsteht. Feuertonnen, Flammenwerfer und Feuerschlucker verliehen diesem bizarren Treiben eine vermutlich nicht ganz unbeabsichtigte Endzeitnote wie ich sie aus den alten Mad-Max-Filmen kannte.

Was mich allerdings noch mehr beeindruckte waren das Getrommel und der relaxte Umgang der Öffentlichkeit damit. Wenn ich mich recht erinnere war die Company zwei oder drei Monate in der Stadt. Einige Wochen davon war sie in Kreuzberg nicht zu überhören, eben mit diesen Trommelrhythmen. Der öffentliche Raum weitete sich wohltuend und war bunt bevölkert. Das Alles erzeugte im Kiez jedenfalls eine sehr besondere Sommer-Atmosphäre. Erstaunlich genug: es schien nicht die Zeit von Anwohner-Beschwerden oder polizeilicher Verbote gewesen zu sein. Da war dieses wunderbare Gefühl von neuen Möglichkeiten… es lag in diesem Sommer Veränderung in der oft besungenen Berliner Luft...

Die Company war irgendwann wieder weg. Etwas länger geblieben sind diverse mutierte Müllobjekte, ein neuer Eisenstil in Berliner Kneipen sowie die Band „Einstürzende Neubauten“.

Mutierter Müll: der Käfermann und der PeaceBird

Eines der mutierten Müllprojekte der MWC war der „Käfermann“. Manche nannten ihn auch „Vogelmann“. Beides hat wohl seine Richtigkeit: ein VW-Käfer-Torso war der Ausgangspunkt. Um 90 Grad aufrecht gewendet, etwas dran rumgewerkelt, dazu ein bisschen mutierter Müll und jeder hatte sofort ein Aha-Erlebnis. Genial einfach und ein echter Hingucker.

Auf den damals noch vorhandenen Schienen des alten „Görlitzer Bahnhofes“ wurde das Gebilde nun Richtung Grenze/ Brücke Landwehrkanal geschoben. Die Bahnschienen lagen noch, das

Mauersegment quer über den Schienen stand ebenfalls noch. So konnte die Skulptur auf einem Fahrgestell bis ganz dicht vor die Mauer auf der Brückenmitte geschoben werden. Eine von vielen Merkwürdigkeiten dieser Grenze war, dass das Hoheitsgebiet der noch existenten DDR erst nach einen Meter vor der Mauer auf Westseite endete. Na ja, und Grenzpolizisten waren auch noch da... Die blieben auch nicht untätig und schoben in einem unbeobachtet nächtlichen Moment das Ganze wieder auf Westgebiet jenseits dieses einen Meters zurück. Damit die Skulptur dort auch bleibt, montierten sie in der Nacht auch gleich noch diesen einen Meter Schienenstrang ab…

Aber nun kommt der „PeaceBird“ ins Spiel. Auf dem gleichen Fahrgestell war an einer langen Stange vor dem Käfermann noch ein zusammengebastelter Vogel angebracht. In Anlehnung an die Friedenstaube von Picasso war dieser als ein Gruß in den Ostteil der Stadt gedacht. Mit viel Spaß wurde das Ganze am nächsten Tag wieder bis an das neue Ende der Gleise geschoben. Der Vogelmann verblieb zwar wie gewünscht im Westen. Aber nun schwebte dieses Täubchen an einer Stange recht vorwitzig immer noch im hoheitlichen Luftraum der DDR...

Was nun folgte war ein Happening wie es viele in dieser Zeit gab: um den zweiten illegalen Grenzübertritt der Friedenstaube zu verhindern rückten die Grenzer wenig später mit einem Pott weißer Farbe an und markierten mit dickem Pinselstrich die Grenzlinie und das Täubchen musste daraufhin ein wenig zurückfliegen. Welch symbolträchtiges Bild! Blieb allerdings die Frage, ob die Grenzpolizisten ähnlich vergnügt waren… Ich glaube eher nicht. Und da habe ich dann auch wieder drüber nachdenken müssen...

Jetzt haben wir Februar 2021. Mit den zweiten Corona-bedingten Einschränkungen seit Herbst 2020 steht wieder eine große Veränderung bevor. Viele Menschen ziehen sich in ihre Wohnungen zurück, öffentliches Leben wird vorerst fast nicht mehr stattfinden und das quirlig-lebendige Umbruch-Berlin erscheint mir nun schon fast wie der Sehnsuchtsort einer fernen Vergangenheit.

-Ho-

Kurzbiografie -Ho-

Winter 1988 – das Jahr meines Umzuges aus dem Niedersächsischen nach West-Berlin. Zu dieser Zeit fühlte sich hier noch niemand so recht angesprochen von den Turbulenzen rundherum. Bekanntermaßen änderte sich das aber ziemlich bald. Was für mich bedeutete: als zugereister Wessi war ich zur rechten Zeit am richtigen Ort, um bald viele neue Erfahrungen machen zu können. Ich habe in einer mir damals recht fremden Stadt den ganzen Schwung der Wende-Zeit ab 1989 live erleben dürfen. Kreuzberg, Neukölln, Moabit: das waren die ersten Stadtbezirke, die ich auf meiner Wohnungssuche durch die damaligen Westsektoren der Stadt kennenlernte. Den größten Teil dieser mittlerweile 32 Jahre (Stand 2021) wohne ich aber in Kreuzberg. Hier zog es mich wieder hin, hier lebe, wohne und arbeite ich noch heute. Viel habe ich in diesen Jahren in meinem Kiez, seiner näheren Umgebung und später auch in Friedrichshain erlebt. Große Geschichten, kleine Episoden, mal skuril, mal sehr bedeutend, aber immer mittemang und authentisch. Anfangs etwas wilder, später etwas milder. Davon berichten meine Texte.