„Ostblock räumt Westberliner Supermärkte leer“. So oder so ähnlich war der Tenor vieler Tageszeitungen in jener Zeit. Und in diesen Vereinigungstaumel-Zeiten schwang nicht so viel Ressentiment mit wie der Titel erst einmal vermuten lässt. Die Mauer ist weg, Gesamt-Berlin erfindet sich gerade neu, wieder einmal. Auf meinem Arbeitsweg von Kreuzberg nach Charlottenburg komme ich auch an Lebensmitttel-Supermärkten vorbei. An sich nichts Ungewöhnliches für einen konsumverwöhnten Westler. Supermärkte gibt es überall, sie sind bequem, haben fast immer offen und die Regale sind stets voll bepackt mit Lebensmitteln. Von meinem Fahrrad runter, schnell rein, ein belegtes Frühstücksbrötchen kaufen und weiter zur Arbeit. Keine allzu aufwendige Angelegenheit. In diesen Wende-Zeiten ist aber alles anders. Vor dem Eingang meines Lieblingssupermarktes parken bereits einige Kleintransporter, die den Kennzeichen nach zu urteilen zumeist polnischer Herkunft sind, aber auch welche mit DDR-Signum sind dabei. Viele Menschen. Durch geschäftiges Treiben schiebe ich mich zur Bäckertheke. Um es vorweg zu nehmen: mein belegtes Salami-Baguette bekomme ich schon noch. Aber wenn ich mich so umschaue im Laden staune ich doch ein wenig. Ich sehe viele Menschen mit viel zu großen Einkaufstaschen (eigentlich eher Säcken). Sie verstauen darin mit Begeisterung ganze Paletten mit diversen Lebensmitteln. Die Regale sind schon um acht Uhr morgens fast leergeräumt, dabei ist gefühlt der Anlieferungs-LKW gerade mal eben vom Hof gefahren. Ich frage mich, ob die Belegschaft die Ware überhaupt noch vorher hat einpreisen können… Im Büro berichten dieser Tage eigentliche alle Kollegen von ähnlichen Erlebnissen.

2020 | Morgens um Acht in Berlin. „Ganz Berlin hamstert“
Hamstern nennt sich ein Tun, das möglicherweise zukünftig rar werdende Waren, in größeren Mengen ansammelt. Dabei kann die Beschaffung sowohl legal als auch illegal erfolgen. Die zwei dahinter stehenden Überlegungen: es geht mir existentiell schlecht, wenn ich diese Waren sicherheitshalber nicht in meiner Wohnung horte. Und weiter: vielleicht kann ich diese ja auch noch (am besten mit Gewinn) eintauschen. Beides kam mir eigentlich nicht in den Sinn. Aber nicht Wenige meiner Kreuzberger Bergmannstraßen-Kiez-Mitbewohner tickten da wohl etwas anders in diesem ersten Jahr der Corona-Pandemie. Ich war erstaunt, als ich wieder vor fast leergeräumten Regalen stand. Ein déjà-vu-Erlebnis? Mehl, Zucker, Spaghetti, Senf wurden offensichtlich als existenziell wichtig zum Überleben erachtet und waren plötzlich Mangelware. Der Run auf diese und noch ein paar weiteren Produkten sorgte zwar nicht für einen vollkommen leergeräumten Supermarkt, aber doch über einen längeren Zeitraum für auffällig große Lücken in den Regalen. Die Versorgungsketten konnten wohl keine zeitnahe Belieferung mehr garantieren. Worüber ich bis heute noch sinniere: Toilettenpapier war eine zeitlang ebenfalls nicht zu haben. Meine naheliegende Vermutung: Klopapier gehört, zumindest in Deutschland, wohl ebenfalls zu den existenziell wichtigen Dingen.

 

Fußnote
Auch wenn die Begriffe nicht ganz deckungsgleich sind, so finde ich doch, das den beiden beschriebenen Situationen eine notwendige Relativierung gegenüberstellt gestellt werden sollte: in den bitteren frühen Nachkriegs-Hungerzeiten waren Plünderungen von Kohlezügen und der Kartoffel-Klau von bäuerlichen Feldern an der Tagesordnung. Dieses Tun erfuhr in der Silvesterpredigt 1946 von dem Kölner Kardinal Frings seine kirchlichen Weihen: Hamstern, was oft auf Diebstahl und Mundraub hinauslief, hiess zumindest im Rheinland, fortan: „fringsen“.

-Ho-

Kurzbiografie -Ho-

Winter 1988 – das Jahr meines Umzuges aus dem Niedersächsischen nach West-Berlin. Zu dieser Zeit fühlte sich hier noch niemand so recht angesprochen von den Turbulenzen rundherum. Bekanntermaßen änderte sich das aber ziemlich bald. Was für mich bedeutete: als zugereister Wessi war ich zur rechten Zeit am richtigen Ort, um bald viele neue Erfahrungen machen zu können. Ich habe in einer mir damals recht fremden Stadt den ganzen Schwung der Wende-Zeit ab 1989 live erleben dürfen. Kreuzberg, Neukölln, Moabit: das waren die ersten Stadtbezirke, die ich auf meiner Wohnungssuche durch die damaligen Westsektoren der Stadt kennenlernte. Den größten Teil dieser mittlerweile 32 Jahre (Stand 2021) wohne ich aber in Kreuzberg. Hier zog es mich wieder hin, hier lebe, wohne und arbeite ich noch heute. Viel habe ich in diesen Jahren in meinem Kiez, seiner näheren Umgebung und später auch in Friedrichshain erlebt. Große Geschichten, kleine Episoden, mal skuril, mal sehr bedeutend, aber immer mittemang und authentisch. Anfangs etwas wilder, später etwas milder. Davon berichten meine Texte.