Kein Festnetztelefon im Haus, Handys noch fast unbekannt? Heute kaum vorstellbar, wo es Menschen geben soll, die gar nicht mehr ohne Voranmeldung aus dem Haus gehen. Selbst bei einem 10 Minuten-Takt des Busses muss die genaue Abfahrtzeit an der Bushaltestelle per Handy im Vorhinein abgefragt werden. Bloss keine Unwägbarkeiten! Aber es gab sie tatsächlich mal, diese Zeiten, da das Leben etwas geruhsamer, dafür aber mit mehr Überraschungen vonstatten ging. In dieser fernen Zeit reichten für so manche Verständigung Zettelblock und ein Bleistift am Bindfaden. Derlei Utensilien waren zumeist direkt neben Klingelknöpfen an Wohnungstüren zu finden. Ich habe das Ganze auch mit einsatzbereitem Bleistiftanspitzer erlebt. Wo und wann? In Ost-Berlin/ Friedrichshain 1994. Sicher: stille Momente des Verweilens gibt es nach wie vor. Auf einem Friedhof geht sowas z.B. immer, hüben wie drüben (siehe Text: „Meine Friedhofsidylle mit Feuer“). Aber ich kann mich eines Gedankens nicht erwehren: diese Geschichte könnte aus dem Märchenbuch sein und sie geht so:

Es war einmal ein Wohngemeinschaftskumpan von mir aus alten hannoverschen Zeiten. Er war der Erste von uns, den es bereits Mitte der 80er nach West-Berlin gezogen hatte und der recht bald eine Freundin aus Ost-Berlin hatte, damals noch: Berlin Hauptstadt der DDR. In diesen Vorwendezeiten nahm er uns gerne mal mit „rüber“. Und ja: erste Treffen wurden an der Weltzeituhr am Alexanderplatz vereinbart. Später zu einer Zeit, in der dieses Märchen spielt, also um 1994, reichten Ost-Orientierung und West-Traute schon für den direkten Weg zur Wohnadresse. In diesem Fall befand diese sich in der Boxhagener Straße. Als sich allerdings die Wohnungstür, vor der wir nun bald standen, partout nicht öffnen wollte, waren wie erst einmal ratlos. Hatte unsere Gastgeberin uns vergessen? Wir kündigten auf dem Zettelblock unseren nächsten Versuch für zwei Stunden später an. Aber was tun als gelernter Wessi im Osten ohne weitere Verwendung? Vielleicht etwas Futtern und ein Bier? Kein so ganz weit entlegener Gedanke. Wir hatten vom Hühner Gust´l gehört und das der hier ganz in der Nähe sein sollte. Wir suchten und wir fanden. Aber die Enttäuschung war groß, denn an der Tür hing ein Bleistift, daneben ein Zettelblock mit der Bemerkung darauf: „Geschlossen, bin kurz weg“. Als ich Jahre später noch einmal vorbei schaute, gab es den Laden nicht mehr. Da war ich wohl doch zu langsam. So bin ich denn auch nie in den Genuss dieser angeblich so einzigartigen „Broiler“ gekommen. Was blieb uns übrig, als weiter sich rumzutreiben und dem Wandel in dieser Gegend auf die Spur zu kommen? Als wir nach gut zwei Stunden wieder vor verschlossener Tür standen, blieb nichts weiter übrig, als unsere Ankündigung zeitlich etwas auszuweiten. So schrieben wir nun mit dem Bleistift:

„Wir  schauen morgen Abend um Achte wieder vorbei.“

Noch war diese Praxis durchaus nicht unüblich und keiner fand daran etwas merkwürdig. Aber eigentlich war es schon zu spüren: Das Tempo in der gesamten Stadt hatte bereits an Fahrt zugenommen. Und an was ich mich noch erinnere: Ein Thema wie Entschleunigung, bzw. Beschleunigung des Lebens war zu dieser Zeit nicht nur für den Kulturteil Berliner Zeitungen interessant. In dieser „Es war einmal-Geschichte“  konnte man dies jederzeit noch durch direkte Praxis erleben.

-Ho-

Kurzbiografie -Ho-

Winter 1988 – das Jahr meines Umzuges aus dem Niedersächsischen nach West-Berlin. Zu dieser Zeit fühlte sich hier noch niemand so recht angesprochen von den Turbulenzen rundherum. Bekanntermaßen änderte sich das aber ziemlich bald. Was für mich bedeutete: als zugereister Wessi war ich zur rechten Zeit am richtigen Ort, um bald viele neue Erfahrungen machen zu können. Ich habe in einer mir damals recht fremden Stadt den ganzen Schwung der Wende-Zeit ab 1989 live erleben dürfen. Kreuzberg, Neukölln, Moabit: das waren die ersten Stadtbezirke, die ich auf meiner Wohnungssuche durch die damaligen Westsektoren der Stadt kennenlernte. Den größten Teil dieser mittlerweile 32 Jahre (Stand 2021) wohne ich aber in Kreuzberg. Hier zog es mich wieder hin, hier lebe, wohne und arbeite ich noch heute. Viel habe ich in diesen Jahren in meinem Kiez, seiner näheren Umgebung und später auch in Friedrichshain erlebt. Große Geschichten, kleine Episoden, mal skuril, mal sehr bedeutend, aber immer mittemang und authentisch. Anfangs etwas wilder, später etwas milder. Davon berichten meine Texte.