Ich bin einer von diesen vielen in West-Berlin gestrandeten „Wessies“… Mit dem Jahr 1988 habe ich allerdings eine sehr besondere Zeit erwischt: Erst einmal ging es mir gar nicht gut - Freundin weg, keine Wohnung, kein Job. Wie es mit der Uni weitergeht, war mir auch nicht so ganz klar. Jedenfalls bin ich binnen zwei Wochen fluchtartig aus meiner Heimatstadt Hannover weg. Einzig positiver, allerdings gar nicht beabsichtigter Nebeneffekt: Der Brief vom Kreiswehrersatzamt zwecks Einberufung zum Zivildienst hat mich, den spät anerkannten Kriegsdienstverweigerer, nicht mehr erreicht (Kreiswehrersatzamt: eine ehemalige Bundesbehörde mit der einzigen Aufgabe, junge Männer in Uniformen zu stecken). Dank sei an dieser Stelle dem damals noch geltenden Vier-Mächte-Abkommen von 1971 gesagt. Diesem Abkommen zufolge war die Zustellung von Einberufungsbefehlen der Bundeswehr an in West-Berlin verweilende Personen nicht erlaubt.                          

Den Spätsommer, den beginnenden Herbst und die sich anbahnenden Entwicklungen habe ich anfangs mehr oder weniger nur am Rande mitbekommen. Mein erster Berliner Winter: Er war bitter kalt. Ich tauchte ab in das wilde Kreuzberger Nachtleben. Was ich vom Berliner Osten wahrnahm: eine mir aus meiner Heimatstadt unbekannt dunstige Duftglocke, verursacht größtenteils durch die Ausdünstungen der vielen Braunkohleheizungen aus dem Ostteil der Stadt. Mein Körper antwortete mit reichlich Husten. Schön, dachte ich mir, alt werden zu wollen, scheint hier auch nicht gerade DAS favorisierte Konzept zu sein, und weit gucken kann man hier in Kreuzberg auch nirgends. Passte also erst einmal alles bestens zu meiner Grundstimmung.

Aber auch dieser Winter ging irgendwann mal zu Ende und dann begann mit dem Jahr 1989 das, was ich im Nachhinein meine persönliche „Zwischen-Raum-Zeit“, meine fast unwirkliche „Twilight Zone“ nenne. Sie schien mir einerseits wirklich unwirklich, war tatsächlich aber für mich gleichzeitig eine Zeit intensiven Erlebens. Erst zeigte sich die Mauer spröde durchlässig, streckenweise war sogar gut auf ihr zu tanzen, dann hallte der Sound der Mauerspechte, die wacker kleine Löcher in die Mauer schlugen, in den Westteil der Stadt hinüber. Später hob schweres Militärgerät ganze Mauersegmente aus ihrem Verbund. Und noch ein wenig später war dieses Hindernis fast spurlos verschwunden.

Und siehe da: nun konnte der Blick weiter schweifen….! Hier in Kreuzberg versprachen gleich drei Brücken über die Spree völlig neue Sichtweisen: die Oberbaumbrücke, die Schillingbrücke und die Michaelbrücke (Die Elsenbrücke ist etwas außen vor. Sie geht von Treptow nach Friedrichshain). Dahinter am anderen Ufer das weite Land, eigentlich eine terra incognita. Später erfuhr ich, dass sich diese Gegend „Friedrichshain“ nennt.

Lange genug geredet: Dieses Neuland musste ich mir natürlich so rasch wie möglich anschauen. Um eine alte Ost-Redewendung nicht in Vergessenheit geraten zu lassen: Ich „machte mal rüber“, aber eben in die andere Richtung. Nicht im Kofferraum eines Autos oder im Ballon, sondern mit dem Fahrrad. Und immer noch ein bisschen halblegal. Das „Rübermachen“ im Bezirk Kreuzberg war zu dieser Zeit nur möglich über die Schillingbrücke, die mir damals das liebste Spree-Brücklein war. Grenzposten waren weit und breit nicht mehr zu sehen. Wenn ich mich recht erinnere, musste ich das Rad sogar noch über ein paar Mauerreste heben. Mit meiner Neugier kam ich aber gerade mal bis zum nächsten Bäcker, kurz hinter dieser ehemals so gesicherten Grenze. Welch Erstaunen, dass die Schrippen hier echt besser schmeckten als „drüben“. Ich empfand dies als Aufforderung, spontan kehrt zu machen, um Schrippe kauend den Sonnenuntergang auf der kleinen Brücke zu genießen. Der Rest Berlins musste erst einmal noch warten. Welch grandioser Blick: nach Südosten in der Ferne spannte sich die Oberbaumbrücke in ihrer ganzen Breite quer über die hier recht breit dahinfließende Spree.

Bei einem Ost-Berlin-Besuch nicht einmal ein Jahr zuvor, als das Grenzregime noch funktionierte, musste ich mich sputen, um über jene Brücke noch rechtzeitig vor Mitternacht wieder in den „Westen“ zu kommen. Ich habe die Erinnerung an eine dunkle, gänzlich autofreie Mühlenstraße, die parallel zur Mauer bis zur Grenzübergangsstelle (GÜST) „Oberbaumbrücke“ führte. Heute flanieren hier Touristen die bekannte „East Side Gallery“ entlang.

Aber jetzt und hier auf der Schillingbrücke: kein Autoverkehr, kein Lärm. Ruhig fließt die Spree ohne jeglichen Schiffsverkehr. Ich zelebriere meine Einsamkeit, werde sentimental und denke dran, dass ich gerade Liebeskummer habe und ahne bereits, dass Andere bald noch viel mehr verlieren werden…Nach Nordwesten trifft mein Blick auf die Michaelbrücke und die Jannowitzbrücke. Dahinter aufragend sehe ich den Fernsehturm. Wie schon gesagt: alles ziemlich unbekanntes Land. Aber Luftlinie mit Hintergrund und allem: bestimmt satte vier Kilometer freie Aussicht! Seit langer Zeit öffnet sich mein Blick und mein Herz wird ein klein wenig weiter...

Später werde ich diese Brückenabende perfektionieren: auf die Schrippe kommt noch Wurst oder Käse, und das Bier wird dann immer ein „Berliner Pilsner“ sein. Das hatte anfangs noch so einen besonderen „Ostgeschmack“. Aber ähnlich wie bei den Ost-Zigaretten und vielen anderen Dingen war mit der Übernahme durch eine Westbrauerei der unvermeidliche „Westgeschmack“ auch hier bald in der Flasche.

Auf dem Flohmarkt habe ich vor kurzem eine Vinyl-Single-Schallplatte aus dem Jahr 1978 von der Ost-Berliner Band „Karat“ für zwei Euro erstanden: Ihr ahnt welche? Richtig: „Über sieben Brücken musst Du geh’n“. Peter Maffay hat diesen Song zwei Jahre später mit Erfolg auch im „Westen“ bekannt gemacht. Dieses Lied hat mich zu diesem kleinen Text inspiriert.

Ach ja: meine dunklen Jahre sind übrigens längst vorbei.

-Ho-

Kurzbiografie -Ho-

Winter 1988 – das Jahr meines Umzuges aus dem Niedersächsischen nach West-Berlin. Zu dieser Zeit fühlte sich hier noch niemand so recht angesprochen von den Turbulenzen rundherum. Bekanntermaßen änderte sich das aber ziemlich bald. Was für mich bedeutete: als zugereister Wessi war ich zur rechten Zeit am richtigen Ort, um bald viele neue Erfahrungen machen zu können. Ich habe in einer mir damals recht fremden Stadt den ganzen Schwung der Wende-Zeit ab 1989 live erleben dürfen. Kreuzberg, Neukölln, Moabit: das waren die ersten Stadtbezirke, die ich auf meiner Wohnungssuche durch die damaligen Westsektoren der Stadt kennenlernte. Den größten Teil dieser mittlerweile 32 Jahre (Stand 2021) wohne ich aber in Kreuzberg. Hier zog es mich wieder hin, hier lebe, wohne und arbeite ich noch heute. Viel habe ich in diesen Jahren in meinem Kiez, seiner näheren Umgebung und später auch in Friedrichshain erlebt. Große Geschichten, kleine Episoden, mal skuril, mal sehr bedeutend, aber immer mittemang und authentisch. Anfangs etwas wilder, später etwas milder. Davon berichten meine Texte.