Ich stehe in der Lindenstraße auf Höhe des Jüdischen Museum Berlin (JMB). Nach langen Jahren der Nichtbeachtung habe ich diese Kreuzberger Gegend mir mal wieder genauer angeschaut: eigentlich immer noch recht unspektakulär. Aber ein genauerer Blick lohnt sich...

Es gibt einen Stadtentwicklungsplan (Berliner Senat/ Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg von 2010, der mittlerweile fast realisiert ist. Zitat Website JMB:

„Neue Nachbar*innen
In der südlichen Friedrichstadt rund um die W. Michael Blumenthal Akademie werden zurzeit fünf Bauprojekte realisiert. Nach dem Beschluss der Bezirksverordneten- versammlung Friedrichshain-Kreuzberg von 2010 soll im Kontext der benachbarten Museums- und Bildungseinrichtungen ein Kultur-, Bildungs- und Kreativwirtschafts- quartier etabliert werden. Die Grundstücke wurden daher nicht nach Höchstgebot, sondern nach der Qualität der Nutzungskonzepte vergeben.“

Da wurde mal groß gedacht: Bildung und Kreativität sollen hier zueinander finden. Hier stehe ich nun also im kalten Februar 2021 und will diesen neu erschlossenen Kreuzberger Stadtraum mal auf mich wirken lassen. Um es vorweg zu nehmen: ein wenig enttäuschend das alles. Klar: das JMB, bzw. die Architektur des Daniel Libeskind fällt auf und regt zum Nachdenken an. Auch die Akademie mit dem schrägen Kubus als Eingang fällt auf. Das war es aber auch schon. Der gepflasterte Fromet-und Moses-Mendelssohn-Platz, auf dem ich stehe, wirkt mit seinem kleinen Wachhäuschen, welches das JMB gegenüber fest im Blick hat, auch nicht gerade einladend. Flankiert wird der Platz von zwei neuen Bauten. Es sind langgezogene, der üblichen Berliner Traufhöhe angepasste Wohn-und Arbeitsstätten, nicht ganz langweilig, aber doch gefällige Architektur. Im „Metropolenhaus“ auf der rechten Seite wird experimentiert: mit einem neuen Bauherrenmodell soll die Kombination von Wohnen, Arbeiten und Kultur im Alltag sich bewähren - ein Versuch, der Wohnungsbaupolitik des Senates etwas Kreatives abzugewinnen. Was hat sich hier rundherum angesiedelt? Eine High-Tech-Fahrradladen-Erlebnis-Welt, ein koreanisches Restaurant, eine Galerie und „feldfünf“: ein Verein, der den „Dialog zwischen Kunst, Design und Alltag“ befördern soll. Dieses Projekt scheint mir noch am ehesten der ursprünglichen Intention nahe zu kommen. Bio-Bäckerei, Friseur, Architektenbüro, Fotoladen runden das Ganze zu einem stimmigen Bild ab. Lasse ich die Worte „Metropolenhaus“ und „Bauherrenmodell“ mal weg fällt mir allerdings sehr schnell etwas Altbekanntes ein: Die Kombination, die hier als Innovation angeführt wird, hatte viele Jahrzehnte lang gut funktioniert und nannte sich „Kreuzberger Mischung“...

Ich würde heute sagen: allet schick hier... ein grün-liberal urbanes Lebensgefühl umweht mich. Mein Verdacht: die Lebensgestaltung im HIER UND JETZT und ganz bestimmt die hippe Zukunftsplanung sind wichtiger als irgendeine Rückbesinnlichkeit auf jüdische Geschichte. Städteplanerische Vision und konzeptionelle Umsetzung scheinen wieder einmal zweierlei zu sein. Aber ich will nicht allzu streng sein: vielleicht habe ich da ja auch was nicht verstanden. Und ja: vielleicht wird es doch noch etwas, wenn nicht Februar ist, Pandemie-Zeiten vorüber sind und quirliges Leben wieder auf Straßen und Plätze zurückkehrt.

Aber noch mal zurück zum JMB. Die schrägen Fensterschlitze und bestimmte Linienführungen in der Fassade sollen Bezüge zur Umgebung, zum Stadtraum herstellen. Im hinteren Aussenbereich sind schienenähnliche Stränge verlegt, die einen Zusammenhang mit dem Lyriker Paul Celan, dem Maler Max Liebermann, dem Schriftsteller Heinrich von Kleist, der Schriftstellerin Rahel Varnhagen und dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel herstellen sollen. Noch einmal ein Zitat von der Website des JMB:

„Aus deren Adressen entstand ein Liniennetz, aus dem Libeskind die Struktur des Gebäudes und der Fenster entwickelte.“

Für Daniel Libeskind stehen diese Persönlichkeiten für einen praktisch gelebten Kultur-austausch in dieser Stadt. Ich kann diesen Zusammenhang im Stadtbild allerdings nicht erkennen, auch eine Recherche hat nicht weiter gebracht. Vielleicht fühlt sich jemand beim Lesen dieses Textes aufgefordert, diese Spur weiter zu verfolgen…?

Mein autobiographisches „Vorher“ in dieser Geschichte fand sehr früh statt: Mitte/ Ende der 60er des vorigen Jahrhunderts. Ich war so um 10/11/12 Jahre alt und oft zu Besuch bei Verwandten in Kreuzberg/ West-Berlin, genauer in der Markgrafenstraße. Diese Straße zweigt auch heute noch in schrägem Verlauf direkt von dem neuen Platz ab. Zu dieser Zeit ist das heute modernisierte Gründerzeithaus mit der Hausnummer 86 eins von gerade mal noch vier Wohnhäusern in der näheren Umgebung. Zu diesem Altbestand kommen noch das barocke Kammergericht (der heutige Eingang zum JMB), das neobarocke ehemalige Hauptgebäude der Victoria-Versicherung und eine unscheinbare Blumengroßmarkt-Halle, die heutige „W. Michael Blumenthal Akademie“ (siehe Text JMB | Sichere Heimstatt. Im Garten der Zerstreuung): das war es eigentlich schon. Ich erinnere mich an ungepflasterte Straßen und an weite staubige Flächen ohne jegliche Bebauung. Der Himmel über Berlin war weit und der Blick aus der Wohnung meiner Verwandten im vierten Stock ging bis zum Anhalter Bahnhof und weiter bis zum Martin-Gropius-Bau. Was mir damals natürlich nicht klar war: dieser Stadtteil war eigentlich schon aufgegeben und in Planung war eine sechsspurige Stadtautobahn mitten durch Kreuzberg entlang der innerstädtischen Grenze zu Ost-Berlin (offizielle Eigenbezeichnung: Berlin. Hauptstadt der DDR). Dieser Plan wurde zum Glück nicht umgesetzt, auch dank der vielen Hausbesetzungen in den 80ern, bei denen viele marode Häuser instandbesetzt und so fast ein ganzer Stadtteil vor dem Abriss bewahrt wurde. Irgendwann waren die Autobahnpläne vom Tisch und die typische Wohnblockarchitektur der 70/80er entstand. Man schaue sich in der südlichen Friedrichstadt heute nur um. Mein Tipp für den kommenden Sommer: herkommen, alles anschauen, Kaffee trinken, nach- und mitdenken.

-Ho-

Kurzbiografie -Ho-

Winter 1988 – das Jahr meines Umzuges aus dem Niedersächsischen nach West-Berlin. Zu dieser Zeit fühlte sich hier noch niemand so recht angesprochen von den Turbulenzen rundherum. Bekanntermaßen änderte sich das aber ziemlich bald. Was für mich bedeutete: als zugereister Wessi war ich zur rechten Zeit am richtigen Ort, um bald viele neue Erfahrungen machen zu können. Ich habe in einer mir damals recht fremden Stadt den ganzen Schwung der Wende-Zeit ab 1989 live erleben dürfen. Kreuzberg, Neukölln, Moabit: das waren die ersten Stadtbezirke, die ich auf meiner Wohnungssuche durch die damaligen Westsektoren der Stadt kennenlernte. Den größten Teil dieser mittlerweile 32 Jahre (Stand 2021) wohne ich aber in Kreuzberg. Hier zog es mich wieder hin, hier lebe, wohne und arbeite ich noch heute. Viel habe ich in diesen Jahren in meinem Kiez, seiner näheren Umgebung und später auch in Friedrichshain erlebt. Große Geschichten, kleine Episoden, mal skuril, mal sehr bedeutend, aber immer mittemang und authentisch. Anfangs etwas wilder, später etwas milder. Davon berichten meine Texte.