Auf Kreuzberger Seite der Spree mit Sicht auf die Oberbaumbrücke befindet sich am Ufer ein breiter Stein-Sockel mit vier Treppenabgängen hin zur Spree. Gebaut wurde diese Doppelkai-Anlage mit Leuchtturm und Flaggenmasten 1885 um Kaiser Wilhelm II als Bootsanleger zu dienen. Der hatte ja so ein Faible für Schiffe und alles Maritime. Hier machten aber auch Schiffe fest, die die direkt am Kai gelegene Baumwollfabrik mit kolonialem Kattun aus Westafrika versorgten. Weithin sichtbar ist heute ein Mast mit einer roten Signalkugel als Erinnerung an eben diesen Leuchtturm, der an diesem Ort bis zum Zweiten Weltkrieg stand.

Wenn heute (oder sollte ich in Zeiten von Corona sagen: früher?) auf der Kreuzberger Admiralsbrücke in lauen Sommernächten gefeiert wird, so geschah dies zu Mauer- und Wende-Zeiten weniger auf Brücken als eher am Ufer der Spree, auf Kreuzberger Seite natürlich. Wie z.B. auf diesem etwas aus der Zeit gefallenen Anleger mit seiner vergessenen Historie. Gab es Boote, die hier hätten anlegen können?

Fernab von lautem Durchgangsverkehr bildeten spontane musikalische Live-Darbietungen, Bierchen und andere Substanzen gerne den richtigen Stimmungshintergrund. Nur fungierte hier nicht eine Mauer als Grenze, sondern die Spree. Entgegen internationaler Gepflogenheiten, die in solchen Fällen die Flussmitte als Demarkationslinie vorsehen, ist in diesem Fall die gesamte Breite des Flusses als Hoheitsgebiet der DDR definiert.

Und da wird es pikant. Saß man z.B. Beine baumelnd am Kai war man damit eigentlich schon halb im Realsozialismus. Dann kamen gerne die DDR-Grenzer in ihren schicken Grenzbooten und einem verdammt starken Osttiger im Tank angerauscht. Sie hatten zumeist nur eine Botschaft. Und die lautete in immer gleicher Wortwahl: „Nehmen Sie bitte Ihre Füße aus dem Hoheitsgebiet der DDR“! Die darauf folgenden Dialog-Varianten waren frotzelnd, aber zumeist freundlich. Den Grenzern blieb allerdings, mit wenigen Ausnahmen, nur die verkniffen preußische Variante. Sie hatten das Ihre getan - anfassen wäre unerlaubter Westkontakt gewesen - und düsten wieder ab. Trotz weiterhin baumelnder Beine, die sie immerhin vorher hatten nassspritzen dürfen. Als running gag und mit oft ebenfalls voraussehbarer Reaktion war auch Folgendes gesetzt: in Sichtweite des Bootes in die Spree pinkeln... über den damaligen Stand des ökologischen Bewusstseins auf beiden Seiten weiß ich allerdings nichts zu berichten. Ehrlich - bei so was war ich ja nie dabei, den Rest habe ich aber wirklich erlebt. Jedenfalls kam man sich nirgends im damaligen Berlin so vertraut näher wie hier…

Um noch rasch die aufgeworfene Frage zu beantworten: die DDR-Grenzer wären wohl die einzigen gewesen, die am West-Anleger hätten festmachen können... Immerhin: ihre Patrouillenboote gelangten als Schnäppchen-Kauf später doch noch in den Westen. Meines Wissens nach Jordanien. Aber ohne Besatzung - die war vorher von Bord gegangen.

Und heute? Der Steg wurde im Rahmen des Förderprogramms „Stadtumbau West“ neu gestaltet und 2011 eingeweiht. In der ehemals kaiserlichen Wartehalle unter dem Sockel hat sich aktuell ein Restaurant eingemietet. Das neue Kreuzberger Lebensgefühl darf sich hier bei nicht eben günstiger Speise-und Getränkekarte selbst feiern. 2019 wurde in der Galerie des Restaurants die  Fotoausstellung „Zeit.Für.Wandel“ gezeigt.*

 


*Apropos Wandel: bis 2010 hiess auf Wunsch von Kaiser Wilhelm II. die Uferstraße „Gröbenufer“, nach Otto Friedrich von der Gröben. Was mich wundert: wie konnte es geschehen, dass in Kreuzberg bis 2010 (!) eine Straße nach einem deutschen Kolonialisten benannt war, der

Zitat aus einer Pressemitteilung des Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg:
https://www.berlin.de/ba-friedrichshain-kreuzberg/aktuellespressemitteilungen/2013/pressemitteilung.167547.php

„im 17. Jahrhundert an der Westküste Afrikas das Fort Großfriedrichsburg gegründet (...hat...) einen Stützpunkt für Brandenburgs Handel mit Zucker, Gold und Edelhölzern – und (...verantwortlich war…) für die Deportation versklavter Menschen aus Afrika zum Verkauf in der Karibik“. ?

Der Gründer des ersten kolonialen Stützpunktes Preußens an der westafrikanischen Küste als Namenspatron im renitenten Kreuzberg! Erst ein Jahr vor Einweihung des umgestalteten Stegs wurde das Gröbenufer endlich umbenannt. Die BVV beschloss, eine Kreuzberger Dichterin, Pädagogin und Aktivistin, die sich mit Alltagsrassismus und deutscher Kolonialgeschichte beschäftigte, mit einer Namensgebung zu ehren: Die Straße erhielt nun den Namen „May-Ayim-Ufer“. 

-Ho-

Kurzbiografie -Ho-

Winter 1988 – das Jahr meines Umzuges aus dem Niedersächsischen nach West-Berlin. Zu dieser Zeit fühlte sich hier noch niemand so recht angesprochen von den Turbulenzen rundherum. Bekanntermaßen änderte sich das aber ziemlich bald. Was für mich bedeutete: als zugereister Wessi war ich zur rechten Zeit am richtigen Ort, um bald viele neue Erfahrungen machen zu können. Ich habe in einer mir damals recht fremden Stadt den ganzen Schwung der Wende-Zeit ab 1989 live erleben dürfen. Kreuzberg, Neukölln, Moabit: das waren die ersten Stadtbezirke, die ich auf meiner Wohnungssuche durch die damaligen Westsektoren der Stadt kennenlernte. Den größten Teil dieser mittlerweile 32 Jahre (Stand 2021) wohne ich aber in Kreuzberg. Hier zog es mich wieder hin, hier lebe, wohne und arbeite ich noch heute. Viel habe ich in diesen Jahren in meinem Kiez, seiner näheren Umgebung und später auch in Friedrichshain erlebt. Große Geschichten, kleine Episoden, mal skuril, mal sehr bedeutend, aber immer mittemang und authentisch. Anfangs etwas wilder, später etwas milder. Davon berichten meine Texte.